Wo die toten Kinder leben (German Edition)
spielend!“
Meine Beine bewegten sich und ich wankte unbeholfen vorwärts. Ich hatte wenig Halt und fast keinen Gleichgewichtssinn. Aber bald war ich neben ihr, bückte mich und ergriff ebenfalls die Jacke von Paul. Gemeinsam schleppten wir ihn zur Terrassentür. Frau Dr. Hofmann öffnete sie. Dann zerrten wir ihn quer über den Rasen, bis wir bei einem hölzernen Gartenhaus ankamen.
Die Ärztin ließ Paul los und richtete sich auf. „Puh, das wäre geschafft!“ Sie klopfte mir anerkennend auf den Rücken. „Heute zeige ich dir meine Werkstatt. Nur Auserwählte dürfen sie sehen.“
Sie öffnete eine bodentiefe Glastür, schnippte mit den Fingern und gemeinsam brachten wir Paul ins Innere der Hütte.
„Sieh dich um, Anne! Das hier ist mein Atelier.“
Mehrere Baumstämme, circa einen Meter hoch, standen im hinteren Teil des Raums. Ihre nackten Äste ragten grotesk verzerrt in die Höhe. Sie griffen in den Himmel.
„Für jedes Kind, das ich zu meinem Baby schicke, stelle ich eines der Monumente auf. Und jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeigehe, weiß ich, dass mein armes Kleines dort, wo es jetzt lebt, nicht alleine ist. Das gibt mir Trost. Unendlich viel Trost.“
Paul begann zu stöhnen.
Die Ärztin betrachtete ihn mitleidig. „Der arme kleine Priester. Jetzt quält er sich doch. Das können wir nicht zulassen, nicht wahr?“
Gegen meinen Willen nickte ich.
„Weißt du, was du jetzt tun musst, Anne?“
Ich sah sie an.
„Du nimmst jetzt deine schreckliche große Pistole heraus und schießt ihm eine Kugel mitten in sein Herz. Wir wollen ja nicht, dass er unnötig leidet.“
Mein Kopf bewegte sich von oben nach unten. Ich nickte. Meine Hand fand den Gummigriff meiner Neun-Millimeter, ich brachte die Waffe nach vorne, sah über ihren Lauf und dahinter das Gesicht von Paul. Wieder drang ein Krächzen aus seiner Brust. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an.
„Worauf wartest du, Anne? Wenn du ihn dorthin geschickt hast, wo er hingehört, kannst du dich selbst erlösen. Dann hören all dein Schmerz, all deine Zweifel, all das Hässliche in deinem Leben mit einem Schlag auf. Dann bist du bei meinen Kindern. Und bei dem kleinen Jungen, von dem ich erfahren habe, und dem du nicht geholfen hast. Dann bist du wirklich frei und glücklich! Das willst du doch?“
Mein Kopf nickte erneut.
Mit dem Daumen schob ich den Sicherungshebel hinunter, ich visierte Pauls Brustkorb an, mein Finger krümmte sich um den Abzug.
Kein Schuss löste sich.
„Was ist los?“, fragte die Stimme von Frau Dr. Hofmann. „Anne! Du musst mir gehorchen!“
Es war unendlich schwer. Die Worte waren mir vollkommen fremd. Ich brauchte eine übermenschliche Kraft dazu, die Töne zu bilden, die Silben zusammenzusetzen.
„Ich. Kann. Nicht“, hörte ich jemanden sagen und wie durch einen dunklen samtenen Schleier wusste ich im letzten Rest meiner Persönlichkeit, der mir verblieben war, dass ich die Worte ausgesprochen hatte.
„Nein? Kannst du nicht?“ antwortete mir die Ärztin. „Warum?“
Ich wusste den Grund. Ich öffnete die Tür von meinem Appartement und Paul stand davor. Seine dunklen Haare, seine graublauen gefühlvollen Augen, sein prüfender Blick. Ich versorgte die Würgemale an seinem Hals. Wir standen nah beieinander, ich spürte die Wärme seiner Haut, während ich ihm wie unabsichtlich über den Nacken strich. Seine Antwort, die in Sekundenbruchteilen über sein Gesicht huschte.
Er war der Mann, auf den ich mein ganzes Leben gewartet hatte.
„So ist das also“, sagte die Ärztin. „Du siehst, was die Liebe aus dir macht. Sie macht dein ganzes Leben kaputt. Und jetzt, jetzt kommst du auch nicht mehr dorthin, wo all die unschuldigen und reinen Seelen leben. Du wirst die toten Kinder nie wieder sehen. Was für eine Tragödie.“ Sie verstummte.
Zeit verstrich.
„Aber“, fügte sie schließlich hinzu, „Sterben werdet ihr trotzdem. Wie die bösen und unreinen Menschen, die ihr seid. Brennen werdet ihr und heulend und schreiend dorthin fahren, wo euch kein Strahl des ewigen Glücks jemals finden wird!
Ich hingegen, ich werde fortfahren, meine Mission zu erfüllen. Meine göttliche Mission! …Bedauerlich ist nur, dass sie Professor Satorius nicht verstanden hat. Dabei hatte ich so große Erwartungen an ihn als hochgebildeten Menschen. Ich erzählte ihm von dem ersten toten Pärchen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um weit mehr als um einen Suizid handelt. Aber der Professor, er hat meinen Plan nicht verstanden.“
Die
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