Wo die toten Kinder leben (German Edition)
hatte mich getäuscht. Das Bild war nicht rosa, sondern rot, rot wie Blut.
Darunter befand sich ein Regal. Alte Jahrbücher eines Internats standen darin sowie einige Aktenordner, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Ihre Aufschrift lautete: Suizidversuche. Darunter waren verschiedene Jahreszahlen aufgedruckt. Sie deckten den Zeitraum der letzten fünf Jahre ab.
Ich hörte einen dumpfen Schlag und als ich mich langsam wie in Zeitlupe umdrehte, sah ich Paul seltsam verrenkt zu Boden sinken. Hinter ihm stand Frau Dr. Hofmann. Sie hielt das Bonbonglas in beiden Händen und lächelte nicht mehr.
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W ie in Trance schaute ich von Paul auf Frau Dr. Hofmann und dann auf die stark vergrößerte Fotografie an der Wand.
„Ich bin das unscheinbare Mädchen, das in dritter Reihe hinten links steht. Da war ich viel jünger. Sie haben das Klassenfoto sicher bei Heinzes stehen sehen und vermutlich auch bei Familie Kern. Leider haben Sie mich nicht erkannt, habe ich recht?“ Um Frau Dr. Hofmanns Mund hatte sich ein bitterer Zug gelegt.
Ich vermochte nichts zu antworten.
Die Ärztin stellte die Bonboniere ab und fuhr mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand liebkosend über den Bilderrahmen. „Bedauerlicherweise konnte ich mit den Mädchen meiner Jahrgangsstufe nicht das Abitur machen. Ich musste nämlich ein Jahr aussetzen. Ich verliebte mich in einen der Lehrer. Er beteuerte, mich auch zu lieben und versprach mir, mich zu heiraten. Ich dumme Gans schwebte im siebten Himmel. Doch als ich schwanger wurde…“, sie brach ab und ihre Finger krallten sich für einen Moment in das mit Blattgold überzogene Holz. Das Bild wackelte unruhig. Frau Dr. Hofmann atmete tief aus, trat einen Schritt nach hinten und rückte das Foto wieder gerade.
„Als ich schwanger wurde“, fuhr sie fort, „wollte er von seinem Versprechen nichts mehr wissen. Stattdessen hat er mir Geld gegeben, damit ich unser Kind abtreibe. Damit ich es töte, das kleine unschuldige Ding.“
Die Ärztin betrachtete mich eingehend. Ihr Ausdruck wirkte fast entschuldigend. „Ich langweilige dich doch nicht, Anne. Oder? …Nein, jetzt bist du ganz artig und hängst an jedem meiner Worte. …Nun, bei der Abtreibung bin ich damals fast gestorben. Und Gott hat mich bestraft. Ich kann seitdem keine Kinder mehr bekommen. …Du kannst dir vorstellen, zuerst war ich sehr verzweifelt. Aber dann wurde mir klar, ich muss nicht mit meinem Schicksal hadern. …Du siehst ja hier, das sind alles meine Kinder.“ Frau Dr. Hofmann wies mit einer ausladenden Geste zu den regungslosen Puppen, deren tote Augen sich in meine brannten.
Ich dachte an meine Pistole, gab meinem Arm und meiner Hand den Befehl, sie zu ergreifen und aus dem Holster zu ziehen. Ich schaffte es, aber dann verließ mich jede Kraft. Meine Waffe baumelte harmlos zwischen meinen gefühllosen Fingern.
Die Ärztin hatte mich mit leicht schief gelegtem Kopf und glänzenden Augen beobachtet. Sie schien über das, was sie sah, sehr erfreut - wie ein Fan, der einen guten Film zum wiederholten Male sieht und den die immer gleiche Stelle regelrecht entzückt.
„Anne, hör mir zu! …Die anderen Mädchen, die durften ihre Kinder behalten. Sie hatten richtige Kinder. Und stell dir vor, die kamen zu mir in die Praxis. Sie wussten nichts voneinander und die Eltern erinnerten sich nicht mehr daran, dass ich mit ihnen einmal in dem Internat in Neustadt gewesen war. Aber ich…, ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich ganz genau.“
Frau Dr. Nauman lachte, es klang warm und herzlich. „Jede Nacht sah ich ihre Gesichter vor mir. Jede Nacht dachte ich daran, dass meine früheren Mitschülerinnen erleben dürfen, wie ihre eigenen Kinder heranwachsen. Und dann habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, dass alle Kinder zusammenkommen.“ Sie stockte, beugte sich zu mir vor, und was sie mir jetzt mitteilte, flüsterte sie in einem verschwörerischen Ton: „Es gibt einen Ort, wo die toten Kinder leben. Dazu muss man die Kleinen in den Himmel schicken. Aber sie müssen von allen Sünden befreit sein. Sie müssen völlig rein sein, wie es mein Baby war, verstehst du? …Und große Kinder sind manchmal böse. Warst du nicht auch schon einmal böse, Anne?“ Sie streckte ihren Kopf vor, bis er nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Ich hatte den Eindruck, sie würde in meine Seele schauen. „Warte einen Moment auf mich. Ich bin gleich zurück.“
Die Ärztin verschwand aus meinem Sichtfeld. Es gelang mir kaum,
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