Wo die toten Kinder leben (German Edition)
meinen Kopf zu bewegen, um ihr nachzublicken. Ich fühlte mich bleiern schwer und unendlich müde. Als sie wiederkam, hatte sie ein Stück Holz dabei.
„Steck deine Pistole weg“, sagte sie beiläufig.
Ich wollte ihr nicht gehorchen. Aber meine Hand folgte sofort ihrem Befehl. Die Neun-Millimeter wurde in ihren Holster an meinem Rücken verstaut.
„Braves Kind“, sagte Frau Dr. Hofmann. Sie reichte mir die Latte, die sie geholt hatte. Lange rostige Nägel waren durch das Brett getrieben und standen krumm und bösartig am anderen Ende heraus.
„Und, Anne“, sagte sie. „Hast du es dir überlegt? Du hast doch wirklich zahlreiche Sünden begangen, nicht wahr? Ist deinetwegen nicht auch ein Kind gestorben?“
Ich schaffte es nicht, zu antworten. Mein Gesicht fühlte sich pelzig und ohne jedes Gefühl an. Die Muskeln in meinem Hals gehorchten mir nicht.
Umso deutlicher durchlebte ich erneut meinen letzten Tag als Polizistin.
Ich sah den Entführer vor mir, seine spöttischen Augen, seine Arroganz. Seine Sicherheit, dass ihm niemand und nichts etwas anhaben konnte. Ich spürte meine Verzweiflung und die Gewissheit, dass das verschleppte Kind nicht mehr lange leben würde.
Ich hatte die Plastiktüte für alle Fälle mitgebracht. Ich stülpte sie ihm über den Kopf und sah zu, wie er die letzte Luft aus ihr heraussaugte, wie das durchsichtige Material langsam beschlug, wie es sich auf sein Gesicht legte, seine Augen jetzt weit aufgerissen, blicklos, fast gebrochen. Der Geruch nach Urin und Fäkalien, als er die Gewalt über seinen Schließmuskel verlor. …Und dann, als ich meinen Kopf ganz dicht an sein Gesicht legte, , stammelte er, wie der Hauch einer Brise, leise, die Adresse des Kellers, in dem er das Kind lebendig begraben hatte…
„Du erinnerst dich“, sagte Frau Dr. Hofmann. „Du kannst jede Einzelheit vor dir erkennen, nicht wahr?“
Der dreckige, modrige Keller, das Geräusch der Schaufeln, ich auf den Knien, mit den Händen scharrend, in dem, was einmal eine Kohlengrube gewesen war. Und dann der Moment, als meine wunden Finger die Oberfläche der Kiste erstmals berührten. Das Knarren, als ich den Deckel zur Seite schob. Das Gesicht des Kindes, weiß wie Schnee, die Augen geschlossen, als würde es schlafen. Der Mund schlaff. Seine blutigen Hände, mit denen er versucht hatte, den Deckel über sich aufzureißen, zerbrochen und zerstört auf seiner Brust.
„Es ist nicht schön, ein totes Kind zu sehen, nicht wahr?“, sagte Frau Dr. Hofmann mit Tränen der Rührung in den Augen. „Wenn man ein Kind auf dem Gewissen hat, muss man sich bestrafen. Man muss sühnen. Sonst kann man seine Seele nicht retten. Du weißt, was du jetzt tun musst?“
Mein Körper gehorchte nicht mehr mir, sondern ihr. Wie von selbst legte sich meine linke Hand auf die angefeilten Spitzen der Nägel. Und meine rechte Hand übte Druck aus. Enormen Druck.
Neugierig beobachtete ich die scharf gefeilten Spitzen auf meinem Handrücken wieder zutage treten. Blut quoll heraus und tropfte auf den Boden. Das Geräusch war überlaut. Es tropfte in meine Gedanken, es tropfte in mein Herz.
„Bravo“, sagte Frau Dr. Hofmann. „Das war doch gar nicht so schwer. …Und weißt du warum? Ich habe dir geholfen. In dem Tee – Scopolamin. Gerade die richtige Dosis, dass du nicht stirbst. Exakt so viel, dass du das tust, was ich dir sage und was für dich das Beste ist. …Nur schade, dass dein hübscher Freund hier seinen Tee weggeschüttet hat. Er wird zwar auch sterben, genau wie du, aber er wird nicht dahin kommen, wo die toten Kinder leben. Nein! …Denn er hat ja nicht gesühnt. Und er hat viel zu sühnen.“ Ihre Miene verdunkelte sich. Ärger und unverhohlene Wut sprachen aus ihr.
„Er ist ein Priester, aber er hat unreine Gedanken, wenn er dich ansieht. Er ist ganz verrückt nach dir. Aber das darf nicht sein. Trotz all dem habe ich ihm eine Chance gegeben.“ Die Ärztin seufzte bedauernd. „Er hat sie nicht genutzt. Jetzt kommt er dahin, wohin auch der einzige Mann gekommen ist, der mich jemals anfassen durfte. Der Mann, der mein Kind nicht wollte. …Aber das siehst du ja sicher ein. Den durfte ich auf keinen Fall zu den toten Kindern lassen.“
Sie drehte sich von mir ab, packte Paul am Kragen und begann, ihn aus dem Wohnzimmer in Richtung Garten zu schleifen. Auf halbem Wege hielt sie inne und sah mich über die Schulter hinweg an. „Na, was stehst du da so rum? Komm einfach mit und hilf mir. Gemeinsam schaffen wir das
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