Wo fehlt's Doktor?
sie ankündigte: »Dr. Bonaccord, Sir Lancelot ist da.«
Dr. Bonaccord erhob sich. Er streckte die Rechte aus, die Linke umklammerte Violine und Bogen. »Ein großes Vergnügen, lieber Kollege! Wir sehen einander viel zuwenig. Ich glaube, ich habe mich nicht einmal richtig für diese köstliche Champagnerparty bedankt, auf der meine Sekretärin und ich uns so wohl gefühlt haben. Es ist doch das erste Mal, daß Sie mein Haus beehren? Wir hier in der Lazar
Row sind wirklich nicht allzu nachbarlich. Gisela, seien Sie so gut und verstauen Sie meine Violine.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie ein so talentierter Amateurmusiker sind.«
»Ach, leider nur ein sehr mittelmäßiger. Aber ich finde die Musik so beruhigend, wann immer ich Gefahr laufe, die gute Laune zu verlieren. >Was für Leidenschaften die Musik doch entfachen oder ersticken kann...< Bitte, nehmen Sie Platz!«
Dr. Bonaccord war pausbäckig, hatte helle Augen und modisch geschnittenes kastanienbraunes Haar. Er war Anfang der Dreißig. Zu einem teuren dunklen Anzug, der nach Sir Lancelots Ansicht eher einem Bühnenstar als einer Kapazität der medizinischen Wissenschaft zustand, trug er ein in leuchtenden Farben gemustertes Hemd und eine auffallende Krawatte. Unter seiner vorgewölbten Stirn saß eine randlose Brille, die seinem rosigen Gesicht einen eher strengen Ausdruck verlieh. Für Sir Lancelot war er eine Art hochintellektuelles Erdbeergelee.
Wie das Arbeitszimmer des Dean und jenes von Sir Lancelot war auch dieser Arbeitsraum klein, und die Fenster gingen auf einen Garten. Den Großteil dieses Gartens nahm ein Glashaus mit Orchideen und seltenen Fettkraut-Varietäten aus Südamerika ein, von denen es hieß, daß sie Fliegen verzehren. Die Wände des Zimmers erstrahlten in fröhlichem Hellgelb, Teppich und Vorhänge waren moosgrün und die Einrichtung wurde von Sir Lancelot etwas vage als »skandinavisch« eingestuft. In einer Ecke stand eine kleine weiße Statue, die ihm wie ein an Spaghetti aufgehängtes hartes Ei vorkam, in einer anderen eine mit karmesinroten knospenden Rosen gefüllte Kristallvase.
Die Tür schloß sich hinter der Sekretärin. Sir Lancelot sah sich suchend um. »Keine Couch?«
»Ich komme ohne dieses Requisit aus den Witzblättern aus. In diesem Fauteuil haben Sie es mindestens ebenso bequem. Sie können die Füße auf den kleinen Hocker legen.«
Sir Lancelot setzte sich gehorsam hin und verschränkte die Hände über seinem beachtlichen Bauch. Er lag fast horizontal; Dr. Bonaccord konnte nur seinen Scheitel sehen. Nun, dachte der Chirurg nicht ohne eine gewisse Erleichterung, war der Moment endlich da - obwohl er in der Psychiatrie den letzten beruflichen Notnagel für unfähige Ärzte sah und in Dr. Bonaccord etwas noch Abwegigeres als den Nabel einer Bauchtänzerin. Aber seltsame Krankheiten verlangen nach seltsamen Mitteln.
»Sie werden natürlich unseren Kollegen im St. Swithin gegenüber striktes Stillschweigen über diese heutige Konsultation bewahren...«
»Selbstverständlich. Ich halte mich bei allen meinen Patienten an die ärztliche Schweigepflicht.« Man hörte den gekränkten Unterton heraus. »Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht verstehe, warum man so ängstlich bemüht ist, zu verheimlichen, daß man einen Psychiater aufgesucht hat. Wenn man sich ein Bein bricht, geht man in aller Öffentlichkeit zum Orthopäden, um es sich einrichten zu lassen.« Er lehnte sich, die Fingerspitzen aneinanderhaltend, zurück. »Was ich möchte: Sie sollen vergessen, daß ich da bin. Vergessen Sie, daß ich überhaupt existiere. Stellen Sie sich vor, daß Sie ganz allein sind und daß Sie zu diesen vier kahlen Wänden sprechen. Gut. Also: was führt Sie her?«
»Kaiser Napoleon Bonaparte -«
»Aha!« sagte Dr. Bonaccord und kritzelte einen Vermerk. »Sie sind also überzeugt davon, nicht wahr?« Sir Lancelot wandte langsam den Kopf nach hinten. »Wie, bitte?«
»Ist ein System in dem Ganzen? Nehmen Sie an, daß ich Baron Larrey bin, der alle Ihre Amputationen bei Borodino durchgeführt hat? Haben Sie in letzter Zeit viel über Waterloo nachgedacht?«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Napoleon. Sie halten sich doch für Napoleon?«
»Ich glaube keineswegs, daß ich Napoleon bin oder sonst irgend jemand.«
Der Psychiater sah enttäuscht drein. Er hatte als Student unter Sir Lancelot gelitten und war der Ansicht, daß, wenn bei dem alten Knaben wirklich Größenwahn ausbrach, dieser ganz enorme Dimensionen annehmen
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