Wo fehlt's Doktor?
Achterdeck eine Ansprache an seine Seekadetten hält, auf wenn auch in der Art eines bärbeißigen Feldwebels, der Übungen mit dem Bajonett kommandiert. Und etwas war noch einzufügen: Er betrachtete das Leben als eine einzige lange Pause zwischen den Gängen eines Banketts und sich selbst als den wesentlichsten Tischredner. Der Dean beschloß, den Artikel noch eine Zeitlang in seiner Schreibtischlade aufzubewahren. Die Zeit würde seine Aufgabe nur erleichtern. Eine spektakuläre Aufführung sollte man erst knapp vor dem Fallen des letzten Vorhangs rezensieren.
»Zum Hotel Crecy«, sagte er dem Chauffeur. Sein Mittagessen mit der Parlamentsabgeordneten war noch für heute vereinbart worden. Was Frankie Humble vorhatte, nahm sie gleich in Angriff.
Das Hotel Crecy, am Hydepark gelegen, gehörte zu jenen Betonspargeln, die in den letzten fünf Jahren im Londoner Stadtzentrum emporgeschossen waren. Der Dean war ein einziges Mal vorher dortgewesen - bei einer von amerikanischen Neurophysiologen gegebenen Party - und er hatte die Preise empörend gefunden. Durch die prunkvolle Hotelhalle ging er zur Portierloge.
»Ist Dr. Humble da?« fragte er. »Ich bin Sir Lionel Lychfield.«
»Dr. Humble hat einen Tisch im Starlight-Saal, Sir. Der Page bringt Sie zum Fahrstuhl.«
Als sich die Fahrstuhltüre im obersten Stock öffnete, erkannte der Dean seine Berufskollegin sofort - sogar von hinten. Niemand außer Frankie würde mit einem riesigen, von künstlichen gelben Rosen gezierten Wagenrad von Hut aus rosa und weißem Tüll in einem Lokal bei Tisch sitzen.
»Lionel, mein Liebling! Ich freue mich so, daß du’s geschafft hast. Ist es dir sehr ungelegen gekommen?«
»Dich zu treffen, Frankie, kommt mir nie ungelegen.« Der Dean schöpfte aus vergessenen Vorräten von Galanterie, während er ihr gegenüber an einem Fenster mit Rundblick über London Platz nahm.
»O wie reizend! Trink einen Wodka-Martini. Das ist alles, was ich mir derzeit leisten kann. Zu Hause messe ich den Wermut mit der Injektionsspritze - nur einen Milliliter. Wegen der Linie, weißt du. Diese grausamen Widersprüche im Leben! Essen und Fettleibigkeit, Müßiggang und Armut, Liebe und Schwangerschaft. Du mußt mir alle neuesten Skandale aus dem lieben alten St. Swithin berichten. Wie geht es Sir Lancelot?«
»Tot«, sagte der Dean feierlich.
»Was?!«
»Ich meine: noch nicht. Aber offensichtlich nahe daran. Das heißt, heute näher als gestern.«
»Du siehst aber schwarz. Trink schnell dein Glas aus und bestell Nachschub!«
Dr. Frances Humble, Parlamentsabgeordnete, nahm einen Schluck von ihrem dritten Wodka. Mit einer Zwiebel, nicht mit einer Olive. Sie war groß, hübsch und sonnengebräunt, und zehn Jahre nachdem sie Captain der Tennis- und Golfmannschaften von St. Swithin gewesen war, sah sie noch immer so aus, als wäre sie allzeit bereit, aus den Kleidern zu schlüpfen und jedes gesunde Spiel zu spielen, das man ihr vorschlug. Wie viele Mediziner hatte sie sich der Politik zugewandt, als der Möglichkeit, einen natürlichen Drang zu befriedigen; nämlich Leute dazu zu bringen, das zu tun, was man als gut erachtete. Der Dean bewunderte sie, seit sie als Spitalsärztin bei ihm angefangen hatte; sie schien ihm so intelligent, so entschlossen, so sauber in ihrer Lebenshaltung und so tüchtig in allem, was sie anpackte. Genau wie seine Tochter Muriel. Und Frankies braune feste Unterarme waren von zarten blonden Härchen bedeckt, die dem Dean jedesmal, wenn er sie erblickte, ein heißes Rieseln im Genick verursachten.
»Nun, wie sieht es in der Politik aus?« fragte er, als ihm der Kellner den zweiten Drink brachte.
»Alles ziemlich beim alten«, sagte sie fröhlich. »Ist es nicht bemerkenswert, daß, wie viele Wahlen man auch abhält, immer wieder dieselben Leute an die Spitze rutschen, mit einem breiten Lachen und einem Glas Gin und Tonic in der Hand?«
Der Dean seufzte. Jedem Wissenschaftler blieb die unberechenbare, auf gut Glück funktionierende Maschinerie der Politik unverständlich. »Ich wünsche mir oft, ich könnte aus den Handlungen der Regierenden dieser Welt klug werden.«
» Glaubst du, ich nicht? Das Leben in der Politik ist voller Widersprüche. Wir haben sozialistische Millionäre. Wir haben Gott weiß wie viele Konservative, die auf die Altersrente angewiesen sind. Die reichen Völker werden reicher und die armen ärmer - obwohl zugegebenermaßen die in den Zeitungen darüber angestimmten Klagelieder herzergreifend sind.
Weitere Kostenlose Bücher