Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
mit Fingern zum Greifen wie bei den Primaten oder für Flügel wie beim Archäopteryx. In manchen Fällen, wie bei Robben und Seelöwen, wurde sogar zur ursprünglichen Funktion zurück-exaptiert, und der Fuß wurde wieder zur Flosse.
In der Natur stoßen Mutation, Irrtum und Serendipität Türen zum Nächstmöglichen auf, und Exaptation versetzt uns die Lage, die Möglichkeiten zu erforschen, die hinter diesen Türen liegen. Wenn Sie in einem dunklen Zimmer ein Streichholz anzünden, um etwas sehen zu können, und dann ins nächste Zimmer gehen, wo sie neben einem Kamin einen Stapel Holz entdecken, ergeben sich vollkommen neue Möglichkeiten für die Verwendung des Streichholzes. Dasselbe Werkzeug, das gerade noch als Lichtquelle gedient hat, wird in einem anderen Kontext zur Wärmequelle. Das ist Exaptation.
Es wäre natürlich schmeichelhaft, davon auszugehen, der Mensch hätte Kultur und Technik zielgerichtet entwickelt wie ein Ingenieur, und weniger wie ein Archäopteryx, der vom Baum hüpft und dabei zufällig entdeckt, dass Federn mehr können alsnur wärmen. Niemand bestreitet die Rolle, die
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(in der wörtlichen Bedeutung, nicht in der übertragenen) in dieser Entwicklung spielt, doch gleichzeitig wimmelt es nur so von Beispielen für Exaptation. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte der französische Webersohn Joseph-Marie Jacquard Lochkarten, mit denen vollautomatische Webmaschinen erstmals auch kompliziertere Muster herstellen konnten. Ein paar Jahrzehnte später verwendete Charles Babbage Jacquards Erfindung, um damit seine Analytische Maschine zu steuern. Noch bis in die 1970er Jahre wurden Computer mit Lochkarten »programmiert«. Lee de Forest baute das Audion als Empfänger und Verstärker für elektromagnetische Signale. Auf die Idee, dass auf seinen Entwurf zurückgehende Trioden eines Tages bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe eine Rolle spielen würden, konnte er damals gar nicht kommen. Er hatte die Vakuumröhre als Verstärker adaptiert, der Signale lauter machte. Später wurde sie als Wandler exaptiert, der Signale in Einsen und Nullen umwandelte: in Information, mit der sich Erstaunliches anstellen ließ. Während ein Fender Gitarrenverstärker aus den 50ern nichts anderes war als eine Variation von de Forests ursprünglicher Anwendung, dienten die 17.000 Vakuumröhren im Inneren des ENIAC, der Berechnungen für die erste Wasserstoffbombe durchführte, einem Zweck, den de Forest unmöglich voraussehen konnte, egal wie innovativ sein Geist war. Heutzutage sind es Patentplattformen wie GreenXchange, die der kommerziellen Wirtschaft Exaptationen ermöglichen, wie sie zu Zeiten der firmeneigenen geheimen Entwicklungslabors undenkbar gewesen wären.
Auch die Geschichte des World Wide Web ist eine Geschichte aufeinander aufbauender Exaptationen. Tim Berners-Lee entwickelte die Protokolle für eine ganz spezielle Umgebung. Sie sollten zum wissenschaftlichen Datenaustausch in Form von Hypertextdokumentendienen. Als in dieser Ursuppe dann die ersten Webseiten auftauchten, die sich auch an Otto Normalverbraucher richteten, legte Berners-Lees Erfindung ungeahnte Qualitäten an den Tag, und eine ursprünglich für rein wissenschaftliche Zwecke entwickelte Plattform wurde als Shopping-, Foto- und Videoplattform exaptiert. Im Lauf der Zeit kamen noch tausend weitere Verwendungen hinzu, über die Berners-Lee zutiefst erstaunt gewesen wäre, hätte er von ihnen gewusst, als er in den frühen 90ern die ersten HTML-basierten Verzeichnisse auf dem Server des CERN anlegte. Als Sergei Brin und Larry Page auf die Idee kamen, die Beliebtheit einer Seite nach der Zahl der Links zu gewichten, die auf sie verweisen, exaptierten sie Berners-Lees ursprünglich als Navigationshilfe gedachten Hypertextlink als Qualitätsmesser. Heraus kam dabei PageRank, der Algorithmus, der Google zu dem Giganten machte, den wir heute kennen.
Der Literaturwissenschaftler und -historiker Franco Moretti hat eindrucksvoll gezeigt, welche Rolle Exaptation auch in der Literaturgeschichte spielt. Nehmen wir einmal an, ein Autor lässt sich eine neue Erzähltechnik einfallen, um in dem Roman, an dem er gerade schreibt, etwas ganz Spezielles zu vermitteln. Andere Autoren lesen sein Buch, die neue Technik gefällt ihnen, und schon verbreitet sich das neue »Gen«. Mit der Welt verändern sich aber auch die Geschichten, die Autoren zu erzählen haben, und schon bald tritt die neue Erzähltechnik in einer wieder anderen
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