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Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Titel: Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Johnson
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großartigen Ideen aus der griechisch-römischen Antike bis ins Mittelalter hinein überlebte. Die astronomischen Kenntnisse des Ptolemäus oder die Kunst, Aquädukte zu bauen, blieben bis zur Renaissance in der Versenkung. Sie mussten weit über tausend Jahre nach Plinius‘ Tod neu entdeckt werden. Die Weinpresse hingegen war ständig weiterverbessert worden, und in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts wimmelte es im Rheinland, dasfür ein Weinanbaugebiet ungewöhnlich weit nördlich liegt, nur so von Winzereien. Die neuesten Spindelpressen funktionierten so prächtig, dass um 1500 dort beinahe viermal mehr Fläche mit Weinbergen bedeckt war, als das heute der Fall ist. So weit nördlich in Europa guten Wein zu keltern, war harte Arbeit, aber wegen der Spindelpresse lohnte es sich, und zwar gewaltig.
    Um 1440 schickte sich ein junger rheinischer Unternehmer an, die Spindelpresse erneut zu modifizieren. Mit seiner letzten Geschäftsidee, der Herstellung von Wallfahrtsspiegeln, hatte er sich gerade erst gehörig die Finger verbrannt. Das Geschäftsmodell war nicht zuletzt an der Beulenpest gescheitert, die zu einem dramatischen Rückgang der Pilgerströme geführt hatte. Rückblickend erwies sich das wirtschaftliche Desaster jedoch als glückliche Wendung in der Laufbahn des ehrgeizigen Unternehmers. Johannes Gutenberg hatte sich über die Spindelpresse der Winzer inzwischen bestens informiert, doch sein Interesse galt nicht dem Wein, sondern Buchstaben.
    Dass Gutenbergs Druckerpresse ein klassischer Fall von einer Zusammenführung bereits bekannter Techniken war, mehr Bastelei als Durchbruch, ist hinlänglich bekannt. Alle Bestandteile, die seine Maschine so effektiv machten – die beweglichen Lettern, die Tinte, das Papier und die Spindelpresse –, gab es schon lange, bevor Gutenberg die erste Bibel druckte. Die beweglichen Lettern beispielsweise hatte vier Jahrhunderte zuvor der chinesische Hufschmied Bi Sheng erfunden. Aber weder in China noch in Korea, wo kurze Zeit später dieselbe Erfindung gemacht wurde, hatte man die Technik so weiterentwickelt, dass sie zur massenhaften Reproduktion von Texten geeignet gewesen wäre. Damals übertrug man die Buchstaben noch durch Reiben mit der Hand auf Papier, was kaum schneller ging als das sonst übliche Abschreiben mit der Feder. Gutenberg war Goldschmied und konnte seine Metallletternimmer weiter verbessern, aber ohne die Spindelpresse hätte er niemals Bibeln in so hoher Zahl drucken können.
    Gutenbergs Genie lag also nicht darin, aus dem Nichts ein völlig neues Gerät zu erfinden. Stattdessen nahm er eine bereits ausgereifte Maschine und verwendete sie für einen vollkommen neuen Zweck. Wie Gutenberg auf diese Idee gekommen ist, wissen wir nicht genau. Aus den Jahren 1440 bis 1448, der Zeit, in der er an seiner Erfindung arbeitete, gibt es nur wenige Aufzeichnungen. Sicher ist lediglich, dass Gutenberg kein Winzer war. Er konnte seine radikal neue Druckmaschine bauen, weil die Weinpresse in der Rheingegend allgegenwärtig war und Gutenberg die Fähigkeit hatte, über die Grenzen seines Fachs hinauszudenken. Er ließ sich für etwas Althergebrachtes eine neue Anwendung einfallen und machte aus einem Gerät zur Herstellung von Alkohol den Wegbereiter der modernen Massenkommunikation.
    In der Evolutionsbiologie gibt es ein Wort für diese Art der Zweckentfremdung: Exaptation. Geprägt wurde der Begriff in einem einflussreichen Artikel von Stephen Jay Gould und Elisabeth Vrba, der im Jahr 1971 in einem Fachmagazin erschien. Exaptation bedeutet, dass ein Organismus zu einem ganz bestimmten Zweck ein ganz bestimmtes Merkmal entwickelt und dieses Merkmal später für eine völlig andere Funktion verwendet. Ein klassisches Beispiel, auf das sich auch Gould und Vrba in ihrem Artikel beziehen, sind Vogelfedern. So weit wir wissen, dienten sie ursprünglich der Temperaturisolierung. Die Dinosaurier der Kreidezeit schützten sich mit ihrem Federkleid vor Kälte, fliegen konnten sie damit nicht. Als ihre Nachfahren wie der Archäopteryx dann die ersten Gleitflüge unternahmen, sorgten die ursprünglich zur Wärmeisolation gedachten Federn für eine bessere Luftumströmung der Flügel, was die Flugversuche des Archäopteryx überhaupt erst möglich machte.Diese Zweckentfremdung geschieht mehr oder weniger zufällig. Aufgrund des Selektionsdrucks entwickelt eine Art ein ganz bestimmtes Merkmal, um sich an ganz bestimmte Bedingungen anzupassen, und dann stellt sich plötzlich

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