Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Rolle auf, die denkbar weit entfernt ist von ihrem Ursprung. So verwendete der französische Schriftsteller Edouard Dujardin 1888 in seinem Roman
Geschnittener Lorbeer
als Erster die Technik des inneren Monologs. Er benutzte sie nur als Einsprengsel innerhalb der eigentlichen Handlung für kurze Momente der zwischenzeitlichen Introspektion. Drei Jahrzehnte später füllte James Joyce einen ganzen Roman mit dieser Technik, um in seinem wegweisenden
Ulysses
auf literarisch noch nie da gewesene Weise das Chaos des Großstadtlebens wiederzugeben. Als Dickens sich Inspektor Bucket ausdachte, um seinen Lesern all die Irrungen und Wirrungen in
Bleak House
zu entschlüsseln, hatte er keine Ahnung, dass Inspektor Bucket Pate für ein neues Genre stehen würde: die Kriminalgeschichte, zu der Wilkie Collins’
Der Monddiamant
genauso gehört wie Sherlock Holmes oder die Fernsehserie
Mord ist ihr Hobby
. Neue Genres brauchen alte Techniken.
Exaptation ist jedoch keineswegs auf die Kunst beschränkt. Auch im Bereich des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts wimmelt es nur so von Beispielen. So schrieb Arthur Koestler in
Der göttliche Funke
: »Alle entscheidenden Ereignisse in der Geschichte der Wissenschaften lassen sich als wechselseitige geistige Befruchtung zwischen den verschiedenen Disziplinen beschreiben.« Konzepte greifen von einer Disziplin auf die andere über und dienen dort als eine Art Dechiffrierschlüssel, mit dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird.
Francis Crick beschreibt in seinen Memoiren, wie ihm die Idee zur DNA-Verdopplung kam, während er darüber sinnierte, wie Skulpturen mithilfe von Gipsabdrücken vervielfältigt werden. Johannes Kepler schrieb die Inspiration zu seinen Planetengesetzen einer religiösen Assoziation zu: Er stellte sich Sonne, Planeten und den leeren Raum dazwischen als die physikalische Entsprechung zu Vater, Sohn und Heiligem Geist vor. Als die Computerpioniere Doug Engelbart und Alan Kay die grafische Benutzeroberfläche erfanden, ließen sie sich von der realen Arbeitsumgebung in Büros inspirieren und wiesen den gespeicherten Daten statt der bisher verwendeten tristen Buchstabenfolgen entsprechende Symbole wie Ordner und Papierstapel zu. Kekulé glaubte nicht eine Sekunde lang, das Benzolmolekül sähe tatsächlich aus wie die Schlange Uroboros, und doch halfen ihm seine Kenntnisse aus der griechischenMythologie, eine der wichtigsten Fragen der organischen Chemie zu beantworten.
In den frühen 1970er Jahren begann der Soziologe Claude Fischer an der Berkeley Universität, sich mit sozialer Interaktion in urbanen Ballungsräumen zu beschäftigen. Stadtsoziologen interessierten sich schon seit Längerem für das Thema. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Louis Wirths Essay von 1938 »Urbanism as a Way of Life«. Wirth schreibt, das städtische Leben führe zu sozialer Desorganisation und Entfremdung, soziale Bindungen und die Annehmlichkeiten kleinerer Kommunen würden im Tumult der Großstadt untergehen. Doch Wirths Thesen hielten nicht lange stand. Wie sich herausstellte, wiesen Ballungsräume ganz im Gegenteil sehr reichhaltige und komplexe soziale Strukturen auf, man musste nur etwas genauer hinsehen. Also machte Fischer sich daran herauszufinden, wie diese großstädtischen Strukturen denn nun genau aussahen. Seine Forschungen führten ihn zu einer überraschenden Schlussfolgerung, die er in einer bahnbrechenden Publikation von 1975 veröffentlichte: Großstädte fördern Subkulturen weit mehr als Vororte und Dörfer.
Was nicht Mainstream ist, braucht eine gewisse »kritische Masse«, um zu überleben. In kleineren Kommunen geht der Nicht-Mainstream leicht unter. Jedoch nicht, weil dort abweichende Interessen und Arten der Lebensführung unterdrückt würden, sondern weil die Chancen, Gleichgesinnte zu finden, weit schlechter stehen. Gehen wir von folgendem Beispiel aus: Unter tausend Einwohnern ist jeweils einer, der leidenschaftlich gerne Insekten sammelt oder glühender Anhänger des Improvisationstheaters ist. In einer Kleinstadt hätte er insgesamt etwa ein Dutzend Gleichgesinnter, in einer Großstadt hingegen mehrere Tausend. Wie Fischer feststellte, entsteht in Ballungszentren ein positiver Rückkopplungseffekt,weil unkonventionelle Menschen auf der Suche nach Gleichgesinnten aus Vororten und ländlichen Gegenden in die Großstädte migrieren. »Die Theorie ... erklärt gleichzeitig das ›Gute‹ und ›Schlechte‹ an Städten«, schrieb Fischer.
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