Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
heraus, dass dieses Merkmal noch weitere, neue Möglichkeiten zum Überleben bietet. Werden diese Möglichkeiten genutzt wie beim Archäopteryx, entwickelt sich das Merkmal weiter, und zwar nach neuen, veränderten Kriterien. Konturfedern, die zum Fliegen geeignet sind, haben eine asymmetrische Form. Die sogenannte Federfahne ist bei ihnen auf der einen Seite des Kiels länger als auf der anderen. Das gibt der Feder ein verändertes Profil, das Auftrieb erzeugt. Bei sehr schnellen Vögeln wie dem Falken ist diese Asymmetrie stärker ausgeprägt als bei langsameren. Daunenfedern hingegen, die nur der Wärmeisolation dienen, sind symmetrisch. Wer seine Federn nur braucht, um sich warm zu halten, experimentiert nicht mit neuen Federformen. Solange es keinen Selektionsvorteil mit sich bringt, führen Mutationen und andere Veränderungen im Erbmaterial zwar ebenfalls zur Bildung von asymmetrischen Federn, aber das Merkmal bleibt innerhalb der normalen Schwankungsbreite und breitet sich nicht über die gesamte Art aus. Wird Geschwindigkeit jedoch zum Überlebensfaktor, erweisen sich asymmetrische Federfahnen als extrem nützlich, und die natürliche Selektion sorgt dafür, dass die Federn immer noch asymmetrischer und damit aerodynamischer werden. So wurden Federn, die ursprünglich zur Wärmeisolation adaptiert waren, im Lauf der Evolution zum Fliegen exaptiert.
Das Konzept der Exaptation ist ein wichtiges Gegenargument, wenn es darum geht, Pseudotheorien zu widerlegen, die die biblische Schöpfungsgeschichte allzu wörtlich nehmen. Seit Darwins
Entstehung der Arten
gab und gibt es eine hitzige Debatte um die Evolutionslehre. Ein beliebtes Argument von Darwins Gegnernwar seit jeher die Frage: Wie könnten so außergewöhnliche und hoch spezialisierte Organe wie Augen oder Flügel anders entstanden sein als durch die lenkende Kraft eines intelligenten Schöpfers? Zweifellos waren die sich allmählich herausbildenden Flügel sehr, sehr lange Zeit nicht zum Fliegen zu gebrauchen. »Was nützen fünf Prozent von einem Flügel?«, ist ein von amerikanischen Kreationisten gerne bemühter Ausspruch. Weil die Evolution nicht weiß, dass sie gerade versucht, Flügel hervorzubringen, kann sie die Entwicklung auch nicht in die entsprechende Richtung beschleunigen, wie es ein Ingenieur tun würde, der für einen Spielzeughersteller ein ferngesteuertes Flugzeugmodell entwickelt. Bringt ein Tier es aufgrund einer Mutation auf zehn anstatt nur fünf Prozent Flügel, verschafft ihm das weder bei der Flucht vor Fressfeinden noch bei der Nahrungsbeschaffung einen entscheidenden Vorteil, also wird die Mutation sich kaum über die ganze Art ausbreiten. Die natürliche Selektion belohnt nicht den Versuch, sondern nur den Erfolg.
Stellt man sich solche Entwicklungen jedoch als Resultat von Exaptationen vor, erscheint das Ganze schon weit weniger geheimnisvoll. Glückliche Zufälle spielen auch hier wieder eine entscheidende Rolle: Durch Mutationen entwickeln Dinosaurier ein Federkleid, das sie warm hält, und durch Zufall stellt sich heraus, dass dieses Federkleid auch zum Fliegen geeignet ist. Nicht selten bauen mehrere Exaptationen aufeinander auf. So gelten Flügel als Exaptation eines Handgelenkknochens, der beim Velociraptor lediglich für mehr Beweglichkeit im Handgelenk sorgte. Das ist es auch, was Jay Gould mit seiner Reifen-zu-Sandalen-Metapher ausdrückt: Neue Fähigkeiten und Merkmale entstehen nicht als Produkt einer zielgerichteten Entwicklung, sondern weil die Evolution nach demselben Prinzip wie die Sandalenmacher Nairobis ständig alte Bestandteile zu etwas Neuem zusammenfügt. Oft werden solche Exaptationen erst durch eine Veränderung des Lebensraumsmöglich. Als die ersten Knochenfische vor etwa vierhundert Millionen Jahren begannen, das Land zu erkunden, hatten sie noch eine Schwanzflosse, die neben Muskeln auch von dünnen Knochen durchzogen war. Als ihre Nachfahren immer mehr Zeit außerhalb des Wassers verbrachten, um sich die reichhaltigen pflanzlichen und tierischen (ein paar Gliederfüßer hatten den Weg an Land bereits geschafft) Nahrungsquellen dort zu erschließen, erwies sich diese Flosse als für etwas geeignet, das den Knochenfischen im Wasser unmöglich gewesen war: Gehen. Und es dauerte nicht lange, da hatte die Evolution aus der Schwimmflosse das gemacht, was wir bei heutigen Säugetieren Fuß und Sprunggelenk nennen. Im Lauf der Zeit wurde das neue Gliedmaß noch für weitere Zwecke exaptiert: für Hände
Weitere Kostenlose Bücher