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Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Titel: Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Johnson
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Schriftsteller, Dichter, Künstler und Architekten in den Kaffeehäusern ständig auf Tuchfühlung waren, statt zurückgezogen in ihren Elfenbeintürmen zu leben. Diese physische Nähe schuf Raum für Exaptation. Gedanken und Strömungen aus der Literatur beeinflussten den Kubismus, die Lyrik entdeckte die Geschwindigkeit für sich und wies neue Wege für die Stadtplanung.
    Es gibt auch noch andere Brutstätten für Exaptation: die Medienlandschaft in der eigenen physischen Umgebung. In den späten 1970er Jahren ging der britische Musiker und Künstler Brian Eno nach New York und bezog ein Apartment in einem umgebauten Reihenhaus im Herzen von Greenwich Village. Die Stadt hatte gerade ihren Bankrott hinter sich, der Serienkiller David Berkowitz ging um, die soziale Ordnung war im Umbruch, aber das chaotische Großstadtleben kannte Eno bereits bestens aus London und Berlin. Was er nicht kannte, war die Art, wie in Amerika Radio gemacht wurde. Jahrelang war er die sonoren Stimmen derausgebildeten BBC-Sprecher gewohnt gewesen. Der ungehobelte Wortschwall, der sich nun aus dem Äther über ihn ergoss, war für Eno eine vollkommen neue und aufregende Welt. Also begann er, die Sendungen aufzunehmen.
    Wie viele innovative Musiker dieser Zeit experimentierte Eno schon seit Langem mit dem Tonbandgerät als Musikinstrument. »Das Tonbandgerät war immer das Instrument, mit dem ich mich am wohlsten fühlte«, wie Eno einmal in einem Interview sagte. »Das Keyboard kommt erst danach, der Bass weit abgeschlagen an dritter Stelle.« Der längste Titel auf dem White Album der Beatles war John Lennons Tonbandklangcollage »Revolution #9«, und die Sprach- und Lärmfetzen in diesem Stück waren in der Tat mehr Collage als Musik, zumindest vom traditionellen Standpunkt aus betrachtet. Auch gab es seit der Mitte der 60er den Synthesizervorläufer Mellotron, der mit Tonbandrollen arbeitete. Worauf aber trotz aller Experimentierfreudigkeit noch niemand gekommen war, war gesprochene Worte als Melodie- und Rhythmusträger in einem Musikstück zu verwenden. Nun hatten sich die Stimmen der amerikanischen Radioprediger, Anarchisten und Schnodderschnauzen so tief in Enos Bewusstsein gebrannt, dass er bei einem Gemeinschaftsprojekt mit David Byrne schließlich auf die Idee kam, das musikalische Potenzial dieser Wortgewitter auszuloten. Das Ergebnis war
My Life in the Bush of Ghosts
, ein vollkommen neuer Mix aus afrikanischen Rhythmen und exotischen Akustikinstrumenten, bei dem Byrnes schnörkelloser New-Wave-Gesang, der so charakteristisch war für die Talking-Heads-Alben, an denen die beiden gemeinsam gearbeitet hatten, vollkommen fehlte. Statt um Gesang arrangierten Byrne und Eno die Stücke um die Stimmen, die Eno im Äther aufgefangen hatte.
My Life in the Bush of Ghosts
ist ein mustergültiges Beispiel für kreative Exaptation: Sätze, die in einem spezifischen Medium das Wort Gottes verbreiten solltenoder gegen den militärisch-industriellen Komplex anschrien, übersiedelten in eine neue Umgebung und wurden etwas, wozu sie nie gedacht gewesen waren: Musik.
    Byrnes und Enos Gemeinschaftsprojekt war die Geburtsstunde einer völlig neuen Art musikalischer Entlehnung. Nicht nur die Musik selbst war so noch nie da gewesen, auch die Herangehensweise und die Vorstellung davon, was alles Musik sein kann, war absolut neu. Auf ähnliche Weise hatten Marcel Duchamp und andere Vertreter des frühen Surrealismus ein halbes Jahrhundert zuvor unsere Vorstellung von Kunst gründlich über den Haufen geworfen und nachhaltig verändert. Als Hank Shocklee das Public-Enemy-Album
It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back
produzierte, orientierte er sich mit voller Absicht an Enos Vokalsamples.
It Takes a Nation
wurde eines der wichtigsten Rap-Alben des Jahrzehnts und beeinflusste die Kultur weit über die Grenzen der Musik hinaus, wie es zuvor Bob Dylans
Highway 61 Revisited
und
Pet Sounds
der Beach Boys getan hatten. Enos brillante Innovation ließe sich leicht zu einem klassischen Heureka-Moment eines einsamen Genies verklären. Zu einer Geschichte vom genialen Musiker, der sich in seinem Klanglabor einsperrt, bis ihn die Erleuchtung trifft, und als er wieder herauskommt, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber Eno war eben nicht allein mit seinem Tonbandgerät: Er stand in Verbindung mit einem weitverzweigten Netzwerk aus Stimmen, die auf den verschiedensten Frequenzen auf ihn einredeten. Eno brauchte dazu kein Kaffeehaus, denn er hatte ein

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