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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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zwang, ihre Fenster herabzulassen, lauerte er ihnen an den Kreuzungen der Hauptstraßen auf. Er passte die roten Ampelphasen ab und ging dann zum Angriff über. Unvermittelt klammerten sich zwei schwielige Hände an den Fensterrahmen, dann erschien ein Kopf mit furchterregend aufgerissenen Augen, während sich grässlich entstellte Gliedmaßen auf die Motorhaube schwangen oder er in den Wagen hineinzuklettern drohte. »Habt Mitleid, um Gottes willen, habt Mitleid!«, flehte der
Aleijadinho
dann mit einem so bedrohlichen Ton, dass es einem kalt den Rücken hinunterlief. Dieses Auftauchen wie aus der Tiefe der Erde hatte so gut wie immer die gewünschte Wirkung, sofort wühlten die Fahrer hektisch in ihrem Portemonnaie oder in der Ablage, um diesen Albtraum möglichst rasch wieder loszuwerden. Und da er die Hände nicht frei hatte, kommandierte Nelson, man möge ihm den klebrigen Geldschein einfach zwischen die Zähne stecken. Dann ließ er sich wieder auf die Fahrbahn gleiten und schob sich das Geld in die Unterhose, nicht ohne einen raschen Blick darauf zu werfen.
    »Gott segne euch!«, zischte er zwischen den Zähnen hervor, während der Wagen anrollte, aber er legte so viel Verachtung in diese Worte, dass es eher klang wie »Zum Teufel mit euch!«
    Er war der Schrecken der Autofahrerinnen. Doch wer ihn ein wenig kannte und ihm seinen Obulus entrichtete, bevor er noch darum zu bitten oder gar auf das Auto zu klettern brauchte, bei dem bedankte er sich mit einem Lächeln, das mehr wert war als sämtliche Segenssprüche der Welt.
    Wenn sein Geschäft schlecht lief, verlegte er sich lieber aufs Stehlen, bevor er sich auf der städtischen Müllkippe mit den Rabengeiern um ein Stück halbverfaultes Obst oder einen Knochen streiten musste, von dem sich noch etwas abnagen ließ. Er stahl meist nicht mehr, als er brauchte, um seinen Hunger zu stillen, und es war ihm ein Gräuel, denn er fürchtete die rücksichtslos brutalen Polizisten. Das letzte Mal, als sie ihn erwischten, weil er drei Bananen stibitzt hatte, hatten die Schweine ihn nach Lust und Laune gequält und gedemütigt, ihn als halbe Portion bezeichnet, ihn unter dem Vorwand, sie müssten ihn durchsuchen, gezwungen, sich nackt auszuziehen, in Wahrheit natürlich, um sich wieder einmal grausam über seine verkümmerten Organe zu mokieren und ihm um die Wette zu erklären, man müsse Brasilien säubern von derlei widernatürlichem Gezücht wie ihm. Dann hatten sie ihn eine Nacht lang mit einem
Cascavel
in eine Zelle gesperrt, einer der giftigsten Schlangen der Region, um einen »bedauerlichen Unfall« zu provozieren. Durch ein Wunder hatte die Schlange ihn verschont, aber Nelson hatte stundenlang vor Angst geweint und sich erbrochen, bis er die Besinnung verlor. Bis heute suchte ihn der
Cascavel
in seinen Träumen heim. Zu seinem Glück war morgens Zé aufgetaucht, der »Trucker Zé«, hatte seine Kaution bezahlt und ihn so vor dem Schlimmsten bewahrt.
    Nelson hegte grenzenlose Bewunderung und Dankbarkeit für diesen merkwürdigen, stets jovialen Mann, der Zuneigung zu ihm gefasst hate und ihn von Zeit zu Zeit besuchen kam, sogar in der Favela. Er gab immer neue Geschichten zum Besten und ließ den
Aleijadinho
für einen Ausflug zum Strand sogar in seinen Laster klettern. Nicht genug damit, dass er groß und stark war und die weite Welt mit seinem bunt bemalten Laster befuhr, sondern Zé, Onkel Zé, wie Nelson ihn anhänglich getauft hatte, besaß etwas, das in den Augen des Jungen einen wahrhaftigen Schatz darstellte: den Wagen des Neffen von Lampião! Einen weißen Willys, den Zé ihm eines Tages vorgeführt hatte. Fahrtüchtig war er nicht mehr, doch Zé hütete ihn wie seinen Augapfel, wie eine Reliquie; der Tag, an dem Nelson sich einmal hatte hineinsetzen dürfen, war der glücklichste seines Lebens gewesen. Was für einen Fang Zé da gemacht hatte! Virgulino Ferreira da Silva, alias Lampião, dieser ehrenwerte Bandit, der die Polizei bis 1938 zum Narren hielt, hatte ihn Antônio Gurgel gestohlen, einem reichen Großgrundbesitzer, der sich in den Sertão vorgewagt hatte. Mit seiner berittenen Räuberbande hatte er ihn überfallen wie eine einfache Postkutsche, und Gurgel war nur dank der Zahlung eines empfindlich hohen Lösegeldes mit dem Leben davongekommen. Nelson kannte sämtliche Details aus dem Leben des
Cangaço
auswendig und auch seiner Männer, der
Cangaceiros
, so genannt, weil sie das Gewehr quer im Nacken trugen wie der Ochse das Joch,

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