Wo Tiger zu Hause sind
Loredana erblickten, versprühten die Blicke der Frauen eine toxische Wolke verächtlichen Konkurrenzinstinkts; die der Männer versuchten sich darin, unter einer gleichgültig erscheinenden Oberfläche interessant zu wirken. In ihren engen Jeans, dem gehäkelten lockeren Hängerchen, mit dem nachlässig zu einem losen Knoten hochgesteckten Haar schlängelte sie sich durch die Menge, ohne zu geruhen, der durch ihre Anwesenheit verursachten Beunruhigung Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ich entführe Ihnen den Doktor für einen Augenblick«, sagte die Gräfin, »versuchen Sie, etwas zu knabbern, bevor diese ganzen Vielfraße das Buffet leergeräumt haben. Im Garten steht auch eines, da haben Sie mehr Ruhe als hier. Es ist doch immer wieder dasselbe«, sagte sie mit einem Blick auf die Gästeschar, die gezielt in die eine Ecke des großen Salons strebte, zu Euclides, »wenn man sie so sieht, würde man denken, sie haben seit Tagen nichts gegessen.«
Voll Sehnsucht, ins Freie zu gelangen, gingen Loredana und Eléazard ins Erdgeschoss hinunter. Ein Diener geleitete sie zu der Fenstertür, die in den weitläufigen Innenhof führte: Zwischen der Fazenda, deren Nebengebäuden und der Kapelle befand sich hier ein Park mit Rasenflächen und Bäumen. Eine große Zahl von Fackeln verbarg den Himmel in einem Halo von Qualm und ließ die Schatten unter Engelstrompeten und Frangipani-Bäumen tanzen, die in ausgetüftelt sparsamer Weise hier und dort gepflanzt waren.
»Kannst du mir mal sagen, was wir hier suchen?«, fragte Loredana vorwurfsvoll.
»Was für ein Haufen von Idioten.« Eléazard wischte sich mit seinem Taschentuch den Hals. »Ich fasse es nicht! Wenn es nur von mir abhinge, wir könnten sofort wieder gehen …«
»Und was hindert uns daran?«
»Ich habe Euclides versprochen, mir etwas Mühe zu geben. Wie auch immer, wir müssen sowieso auf ihn warten und ihn nach Hause bringen, es ist ja sein Wagen.«
Kurz unschlüssig, runzelte Loredana die Brauen.
»Bitte«, sagte Eléazard sanft, als hätte er statt ihrer stummen Auflehnung scharfe Worte gehört.
Sie blickte ihn forschend an, schließlich lächelte sie, wenn auch etwas schmollend, damit man sah, wie viel Überwindung es sie kostete:
»Okay. Aber ich warne dich, dann brauche ich Champagner – viel Champagner!«
Eléazard, auf Schlimmeres gefasst, antwortete erleichtert: »Das ist das kleinste Problem! Dafür kann ich sorgen.«
Er ließ Loredana an einem der kleinen hier und da unter den Bäumen verstreuten Korbtische sitzen und stapfte entschlossenen Schritts Richtung Buffet.
Aus halbgeschlossenen Augen sah sie ihm nach, wie er zur anderen Seite des Parks ging: Der etwas zu weite Leinenanzug, seine Gangart – eine Spur zu elastisch, eine Spur zu lässig … dieser merkwürdige Kerl stach auf ausgesprochen angenehme Weise von der Umgebung ab: Menschenaffen, die Gesichter voll roter Äderchen, kurzatmige Weibchen mit schlaffem Fleisch auf der Unterseite der Arme, den Hals mit greisenhaften roten Flecken übersät; außer Atem geratene Taucher, die nur kurz zum Luftschnappen draußen in der Nacht erschienen, ausschließlich aus körperlicher Notwendigkeit, um möglichst rasch wieder ins famose Innere der Fazenda zurückzusinken; Kadaver von pergamenten verwelkten Kommunionskindern, Mumien im Taufkleid, samtener Albtraum eines Francisco Goya … Es war wirklich irrsinnig: Hier, mitten im Sertão, der altbacken-kitschige Luxus dieses grotesken Totenhauses! Und nur, weil dieser ziemlich gutaussehende Franzose sie unter seine Fittiche genommen hatte und sie das zuließ, eher, weil es ihr die Langeweile vertrieb, als aus einer wahren Schwäche heraus. Der Anwalt hatte sich immer noch nicht gemeldet. Gestern früh am Telefon hatte seine Sekretärin hoch und heilig versprochen, er verfolge ihre Angelegenheit »aktiv«, aber so langsam begann sie, an sich selbst zu zweifeln, und es befiel sie die Ahnung, dass dies hier nur wieder eine neue Art der Flucht sein könnte, eine Art, die Angst zu bemänteln, die ihr die Luft genommen hatte, mitten am helllichten Tage, in Rom, nur wenige Meter, nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte.
Eléazard tauchte wieder auf, zwei Gläser und eine Flasche Champagner in den Händen, begleitet von einem fröhlichen Diener, der auf seinem Tablett genug herbeitrug, um ihren Appetit mehrfach zu stillen.
»Aha, das ist also ›die-schöne-Italienerin-die-kurz-vorm-Verdursten-ist‹«, sagte er, als er die Teller auf das Tischchen
Weitere Kostenlose Bücher