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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Geist geht es darum, den verderblichen Zauber des Exotismus zu tadeln und nicht eine wie auch immer geartete Prädominanz der Männer. Oder irre ich mich?«
    »Sie erstaunen mich immer wieder aufs Neue, mein lieber Freund!« Der Doktor erhob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. »Ich hätte mir denken sollen, dass Sie Ihren Goethe in- und auswendig kennen … Es war zwar nur ein Scherz von mir, aber ich bleibe dabei! Niemand wird mich hindern können, etwas mehr aus einem Satz herauszulesen, als er bereitzuhalten scheint. Und da wir schon einmal darüber reden, denken Sie an die Passage insgesamt, und schon sehen Sie, dass ich weit davon entfernt bin, den Sinn zu entstellen, im Gegenteil, ich bin ihm vollkommen treu! Ottilie geht in der Tat von einer Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Natur aus: Wir sollten nur die Wesen kennen oder kennenlernen, die uns nah sind. Sich in einem Land, in dem sie reine Kuriositäten sind, mit Affen und Papageien zu umgeben, bedeutet, sich selbst die Sicht auf unsere wahren
Kompatrioten
zu verstellen, wie sie es bei Goethe nennt, die vertrauten Bäume, die Tiere und Menschen, die uns zu denen machen, die wir sind. Das Exotische ist dann der Baum, der den Wald verbirgt, wenn man so will … und das Symptom einer schweren Funktionsstörung. Ihrer natürlichen Umgebung entrissen, sind diese armen Kreaturen voller Angst; eine Verzweiflung, die sie dann auf uns übertragen und die uns zutiefst verändert:
Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu
, so sagt dort Goethe,
um Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen

    »Er sagt wirklich
Mohren
?«, unterbrach ihn Loredana.
    »Ja, aber ohne jeden Rassismus, soweit ich weiß. Vergessen Sie nicht, in seiner Zeit war es absolut modern, sich schwarze Sklaven als Hausbedienstete zu halten. Er dissertiert in der Manier eines Rousseau darüber, Sie verstehen, was ich meine.«
    Loredana lächelte gerührt; Doktor Euclides hatte sie schon mit seinen ersten Willkommensworten vor zwei Stunden für sich eingenommen. Haar und Ziegenbart von der Fahrtgeschwindigkeit nach hinten gedrückt, sah er einem Schnauzer ähnlich, die Nase gereckt, in die Luft schnuppernd …
    »Aber das Gegenteil ist ebenso wahr! Das ist der genaue Sinn der Stelle, die ich eben zitierte. Wird ein Mensch seinem Herkunftsland entrissen und, freiwillig oder nicht, in eine andere Weltgegend verpflanzt, so wird er ein anderer … Auch wenn er in dem neuen Land mit Papageien, Affen und mit … sagen wir einmal: den Ortsansässigen Umgang hat, in deren eigener Umgebung, so bleibt er doch ein Entwurzelter, dem nur zwei Alternativen bleiben, Verzweiflung angesichts seines Mangels an Vertrautheit oder das völlige Aufgehen in dieser neuen Welt. In beiden Fällen aber wird er zu dem Mohren, von dem wir sprachen: ein Unglücklicher, außerstande, sich in diesem Universum zu akklimatisieren, in dem er nichts versteht, bald außerdem ein Amputierter, nämlich unfähig, sich wieder in seiner Heimat zurechtzufinden, und bestenfalls ein Verräter, einer, der sein Leben lang eine Kultur nachäffen wird, die auch noch seine Kinder nur unvollständig zu ihrer werden machen können …«
    »Das mag ja sein«, sagte Eléazard in einem Tonfall, der sein Einverständnis gleich wieder fraglich erscheinen ließ. »Obwohl diese Ansichten auch aus dem Munde eines wüsten Patrioten stammen könnten oder aus dem eines Faschisten, dem alle Vermischung ein Gräuel ist. Die Zeiten haben sich geändert; heute kommt man von einem Ende des Planeten zum anderen schneller als zu Goethes Zeiten von Weimar nach Leipzig; die kulturellen Unterschiede verwischen sich, ob man das nun bedauert oder begrüßt; irgendwann werden sie in einem Mischmasch aufgehen, wie ihn die Menschheitsgeschichte noch nie gekannt hat … Aber wo ist bitte der Zusammenhang mit Moreira?«
    »Nirgends, lieber Freund, nirgends«, und der Doktor kicherte lautlos. »Und warum sollte unbedingt einer bestehen? Schließlich und endlich« – und er wandte sich wieder zu Loredana – »lebe nicht ich mit einem Papageien zusammen …«
    »Der Punkt geht an Sie!« Jetzt lachte auch Loredana.
    »Ihr Glück, dass wir da sind«, sagte Eléazard und bog auf die große Auffahrt der Fazenda ein, »sonst hätte ich Ihnen gezeigt, aus welchem Holz ich geschnitzt bin.«
    Er lächelte den alten Mann liebevoll an, aber in seinem Nacken sah Loredana einen roten Fleck flammen, der dort bislang nicht zu sehen gewesen

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