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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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von einer zügellosen Orgie gekrönt.«
    Seine Anspielung erregte mir Gewissensbisse wegen gewisser Ereignisse, deren der Leser sich entsinnen wird, & so wird man begreifen, wie verwirrt ich durch Kirchers Bericht war … Zum Glück erläuterte er mir bereits die Symbolik der Stele, die wir vor Augen hatten:
    »Sie zeigt die Szene der Tauroktonie, der rituellen Stiertötung. Eine Komposition, die Licht & Schatten darstellt, das heißt, Ormuzd & Ahriman, die ohn Ende miteinander ringen. Ohne des Mithras ausgleichende Wirkung würden diese beiden verfeindeten Brüder der persischen Kosmologie einander töten. Mithras nun vereint Kälte & Wärme, das Feuchte & das Trockene, das Gute & das Schlechte, Werden & Vergehen, Morgen & Abend, er gewährleistet universelle Harmonie, so wie ein Heptachord die tiefen Töne durch hohe mildert und die hohen durch die mittleren, die mittleren durch die allertiefsten & diese wiederum durch die höchsten. Eine Doktrin, die aufs Beste das Ei des Zarathustra verkörpert, so wie ich es aufgrund der Werke von Jamblichos und des Plutarch von Chaironeia habe rekonstruieren können …«
    Kircher nahm einen spitzen Stein zur Hand, & auf einem Rest Putz zeichnete er eine Ellipse, angefüllt mit länglichen schwarzen & weißen Dreiecken, in ihrem Mittelpunkt die Sonne & ringsum die südlichen & nördlichen Gestirne.
    »Zarathustra«, fragte ich, »wer genau war das?«
    »Zarathustra war kein Mensch, sondern ein Titel, jedem verliehen, der sich mit der Wissenschaft von den Arkana & der Magie befasste. Der bekannteste Zarathustra, Erfinder der Magie, war kein anderer als Ham, Noahs Sohn. Der zweite Zarathustra ist Kusch, Sohn des Ham, getreulicher Bewahrer des väterlichen Wissens. Kusch seinerseits ist Vater des Nimrod, des Erbauers des Turms von Babel … Es ist wahrscheinlich & wäre mir leicht beweisbar, dass Ham nicht nur von Henoch die Lehre von den Engeln & den Mysterien der Natur erlernte, sondern auch die bösen Künste, die esoterischen & abwegigen Themen der Nachfahren des Kain. So mischte er die erlaubten Künste mit den unerlaubten & begründete ein Gesetz, das im Vergleich zu dem seines Vaters durch und durch verdorben war. Später dann trennte Trismegistos, Spross des kanaanitischen Zweiges von Ham – & Sohn jenes Misraim, der Ägypten als Heimat erwählt hatte –, das Erlaubte vom nicht Erlaubten & begründete so ein der göttlichen Religion näheres Gesetz. Er wirkte wie ein heidnischer Philosoph, genährt einzig vom Licht der Natur, inmitten der Verderbnis der Welt. Und er ist in Wahrheit der echte Zarathustra, Hermes Trismegistos, der von so vielen antiken Autoren Gefeierte. Doch komm, es ist Zeit, zur zweiten Prämisse meines steinernen Syllogismus überzugehen; dies hier war nicht die letzte Überraschung, die ich dir bereite …«
    Ohne mir Zeit für eine Reaktion zu lassen, ergriff Kircher eine Fackel & eilte mir durch die engen Flure dieser unterirdischen Wohnstatt voraus. Von der Flamme rötlich beleuchtet, wirkte er wie ein Virgil, der seinen Dante Alighieri ins Inferno führt,
si parva licet componere magnis
[9]  … Bald erblickten wir die in den Fels gehauenen Stufen einer schmalen Treppe. Nachdem wir sie vorsichtig erstiegen hatten, gelangten wir in einen geräumigen unterirdischen Saal voller verschiedenartiger Säulen.
    »Bekreuzige dich«, und Athanasius tat es bereits, »denn wir befinden uns hier in einer Basilika. Diese Kirche stammt aus dem vierten Jahrhundert nach dem Tode unseres Heilands; erbaut wurde sie von den ersten Christen aus Trümmern des antiken Roms. Nie haben Glauben & Liebe solche Höhen erreicht wie an diesem Orte. Ein neues Zeitalter begann, gegründet auf die Ruinen & Zweifel einer niedergegangenen Zivilisation. Keinerlei Reichtümer hier oder leichtsinniger Zierrat: nichts als Schlichtheit, so bloß, wie die Menschen vor Gottes Größe dastehen.«
    Während mein Meister sprach, waren wir zwischen den Säulen einhergegangen und standen nun vor einem kleinen christlichen Altar, einem steinernen, von einer Marmorplatte gedeckten Trog, zu beiden Seiten mit dem Christusmonogramm geschmückt. Ich bekreuzigte mich abermals, von starken Empfindungen durchdrungen, mit all meinen Sinnen nahm ich die Gegenwart Gottes wahr. Dieser Chor mochte unter der Erde liegen & seit langem von den Menschen vergessen sein, er war dennoch nicht unbewohnt …
    »Hilf mir«, sagte Kircher und hob die Marmorplatte an, »ich möchte dir

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