Wo Tiger zu Hause sind
strikt geschlossen zu halten. Nicht aus Vorsicht, es ist nichts Verbotenes dabei, sondern um meiner Demonstration eine möglichst große Wirkung zu geben. Also, schließe nun die Augen & öffne sie erst wieder, wenn ich es dir gebiete.«
Ich willfuhr ihm gern, & mein Meister führte mich an der Schulter wie einen Blinden. Nach rund fünfzig Schritten begaben wir uns in ein dunkles Gässchen – ich bemerkte es an der Linderung in meinem Nacken, auf den die Sonne nicht mehr brannte –, & bogen dann in rascher Folge noch drei-, viermal ab, sodann gingen wir die Stufen einer nicht enden wollenden Treppe hinab. Seltsamerweise war kein anderes Geräusch mehr zu hören. Diese vollkommene Stille hatte nun doch etwas Beängstigendes an sich, und ich zitterte ob der Kälte und meiner Bangigkeit. Hin & wieder gingen wir einige Schritte eben vor uns hin, drehten & wendeten uns jedoch wie in einem Labyrinth. Schließlich, nach vielleicht dreißig Schritten auf einem derart schmalen Pfade, dass wir kaum hindurchpassten, blieb Kircher stehen.
»Wir sind am Ziel«, sagte er bedeutsam. »Nur um die zwanzig Schritt sind wir in die Tiefe vorgedrungen, doch haben wir dabei alle Zeitalter durchquert! Strenge deine Phantasie an: Nicht weit von hier ertüchtigen sich gerade die Gladiatoren fürs Sterben; Tertullian sucht noch in den Vorstädten von Karthago Zerstreuung; Marc Aurel stirbt langsam am fernen Ufer der Donau, & Rom ist schon nichts mehr denn die träge Hauptstadt eines fußlahmen, vergehenden Reiches. Wir befinden uns im Jahre des Herrn 180 , im Hause eines Götzendieners, der reich genug ist, um unter seinem eigenen Dach seinem Lieblingsgott ein Heiligtum zu errichten. Öffne die Augen, Caspar, und erschaue Mithras, den Fürsten des Lichtes und der Schatten!«
Ich gehorchte meinem Meister & konnte nicht umhin, einen Schritt rückwärts zu tun angesichts des Schauspiels, das sich mir bot. Wir befanden uns in einer Art in den Fels gegrabener Kaverne; zwei Öllampen warfen ihren schwachen Schein auf eine grob aus dem Stein gehauene Stele, die auf einer Seite jedoch höchst fein zu einem Relief gearbeitet war. Sie zeigte den Gott Mithras in Gestalt eines Epheben mit phrygischer Kopfbedeckung, wie er gerade einen riesigen Stier tötet. Spritzer getrockneten Blutes befleckten die Oberfläche des Steins, doch auch die Wände der Höhle, in welcher wir uns befanden. Ich bekreuzigte mich unter Anrufung Jesu.
»Keine Furcht«, beruhigte mich Kircher, »die einzige Gefahr, die unser hier droht, ist die einer Erkältung. Hilf mir, die Fackeln zu entzünden, dann sehen wir besser, & es wird die ungesunde Luft an diesem Orte ein wenig erwärmen.«
Je mehr Fackeln wir entzündeten, desto deutlicher sah ich, dass dies Heiligtum der geräumigste Raum einer regelrechten unterirdischen Wohnstatt war, die sechs oder sieben Säle umfasste. Die anderen waren mit rudimentärem
opus sectile
gepflastert, & an den Wänden waren noch großflächige Reste grober Ausschmückungen zu erkennen. In einem Winkel, früher wohl die Küche des Hauses, ergoss sich ein Quell klaren Wassers in ein granitenes Trinkbecken.
Wir begaben uns wieder in den Mithrastempel & setzten uns auf eine der marmornen Bänke, die den Raum in ganzer Länge flankierten.
»Hier, genau wo wir sitzen«, fuhr mein Meister fort, »nahmen die Gläubigen Platz, nachdem sie ihre Opfergaben auf einem Tisch abgelegt hatten. Sodann vertieften sie sich ins Gebet, während der Priester, der Meister des Ortes, die rituellen Hymnen psalmodierte. In dem Moment erdolchten Gehilfen im Raum zu unsern Häuptern einen Stier; das Blut sprudelte durch die Öffnungen, die du im Deckengewölbe sehen kannst, ein lauer, fader Regen, in den die Gläubigen ihre demütigen Hände & Gesichter hielten …«
»Ist das …?«, stammelte ich und wies auf die rotbraunen Spuren, welche den Stein befleckten.
»Nein, nein«, Kircher war belustigt, »das sind Reste von Farbe. Alles hier war ausgemalt, Wände & Reliefs, & die dazu verwendete Purpurfarbe widersteht dem Angriff der Zeit am besten.«
Diese Korrektur beruhigte mich, dennoch konnte ich mich eines gewissen Widerwillens angesichts der zweideutigen Beschmutzungen nicht erwehren.
»Nach dem rituellen Reinigungsregen begannen Männer wie Frauen mit bluttriefenden Gewändern, die Haare voller Kieselsteine, zu Ehren des Gottes zu essen & zu trinken. Und schließlich wurde diese der schlimmsten menschlichen Barbaren würdige ›Liturgie‹
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