Wo Tiger zu Hause sind
der Angst vor Ansteckung, anders auch als bei Beinamputierten oder Blinden, beide weniger beweglich, als Nelson es war, konnte er trotz seiner Behinderung aktiv sein: Sie erlaubte ihm noch, die Autos zu entern, aber auch die Eingänge der Luxushotels. Obwohl er allerlei Listen anwenden musste, um nicht von den Portiers gleich wieder auf die Straße gesetzt zu werden – von denen manche ihn allerdings für einen Umsatzanteil seinem Geschäft nachgehen ließen –, geschah es nur selten, dass ein Tourist, beim Verlassen des Imperial Othon Palace oder des Colonial mit ihm konfrontiert, nicht versuchte, diesen lästigen Schönheitsfehler in seinem Urlaubsprogramm mittels eines raschen Almosens zu verscheuchen.
Es war fast Mittag, als Nelson beschloss, mit dem Bus nach Aldeota zu fahren, dem schicken Stadtteil im Norden. Nicht dass er dort eine Chance gehabt hätte, auch nur einen Cruzeiro zu ergattern – die Reichen verbarrikadierten sich in ihren Villen wie in wahren Festungen, alles war voller Wachmänner, und die waren noch gefährlicher als die Bullen –, aber Zé hatte ihm nach langem Zureden die Adresse des Autohändlers gegeben, der den Willys gekauft hatte, und Nelson wollte sich da mal ein bisschen umsehen …
Vor dem Autohaus José de Alencar beobachtete er das Hin und Her eines Angestellten, der lustlos einen Kotflügel wienerte, dann nutzte er dessen Unaufmerksamkeit und schlüpfte unter einen der drinnen stehenden Wagen. Der Inhaber dieser Mercedes-Benz-Vertragswerkstatt hatte sich auf Oldtimer spezialisiert. Nelson fiel ein strahlend anmutiger Citroën Traction Avant auf, dessen polierte Chromteile ihm schöner zu funkeln schienen als eine Monstranz. Geschickt wie ein Sioux robbte er ungehindert bis zu diesem Unterschlupf, dann, auf dem Rücken liegend, die Nase dicht am Unterboden des Hecks, schloss er die Augen, um den Duft von Öl und Gummi besser genießen zu können.
Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als ihn ein kräftige Händeklatschen aus seinem Dösen weckte.
»He! Ist da jemand?«, rief eine tiefe, autoritäre Stimme.
»
Sim senhor
, ich komme sofort!«, antwortete der Angestellte.
»
Deputado
Jefferson Vasconcelos … Hol deinen Chef, ich möchte mir die Oldtimer ansehen.«
»Sofort, der Herr. Sehen Sie sich gern schon um, er ist gleich da.«
Nelson hörte den Laufschritt des Angestellten, einen Moment später dann den des Chefs, der seinem Kunden entgegeneilte.
»Floriano Duarte, zu Diensten. Ich freue mich, Sie kennenzulernen,
Senhor Deputado
.«
»Angenehm, angenehm …« Der Abgeordnete klang missmutig. »In aller Kürze, ich habe es eilig: Ich habe meinem Sohn zu seinem Achtzehnten einen Wagen versprochen, und er hat sich in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt einen Oldtimer haben will, statt des Golfs, den ich vorgesehen hatte. Er will sich einfach nicht davon abbringen lassen …«
»Ah, das kenne ich,
Senhor Deputado
… Gegen die Mode kommt man nicht an. Die jungen Leute sind ganz scharf auf diese Wagen, und bei allem Respekt, ich finde, sie haben recht. Ich sage das nicht, weil ich welche verkaufe, Sie sehen ja, ich handele auch mit Mercedes. Aber die heutigen Wagen sehen alle aus wie Zäpfchen, wenn Sie erlauben, oder wie Seifenstückchen: ein Badezimmerdesign, keinerlei Erfindungsgeist, keinerlei Schönheit … Als hätten sämtliche Autobauer sich verschworen! Früher, ja, da hat man sie gestaltet wie Karossen, wie Altäre in einer Kathedrale! Und ich meine nicht nur die Hispano-Suizas, Delahayes oder Bugattis, nein … sehen Sie sich mal einen Plymouth an, einen Hotchkiss oder Chrysler! Die sind begehrt, die stehen im Museum wie Kunstwerke, dabei sind sie noch fahrbereit, und oft mehr als jüngere Modelle! Der hier zum Beispiel … Kommen Sie doch einmal.«
Beide Fußpaare näherten sich dem Wagen, unter dem Nelson lag. Er identifizierte den Abgeordneten sofort anhand des perfekten Falls der Hosenbeine auf die polierten Slipper. Er hätte nur die Hand danach auszustrecken brauchen …
»Citroën 1953 , Vorderradantrieb, schauen Sie sich bloß einmal dies Juwel an! Sechs Zylinder, 78 PS , Vergasermotor mit hängenden Ventilen, 130 Stundenkilometer in 27 Sekunden! Was sagen Sie dazu? Bitte, treten Sie näher, keine Scheu … Sagen Sie selbst – was für eine Klasse, was für eine Linie! Sehen Sie bloß den Schwung der Kotflügel, der Stoßstangen … Dieses Wunder werden Sie nicht im Ernst mit einem VW vergleichen
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