Wo Tiger zu Hause sind
ein nächtlicher Asthma-Anfall.
Da stieg der Donnermann in den Milchfluss hinab, wo er sich in eine Riesenschlange verwandelte mit einem Kopf wie ein Boot. Das war die Piroge der Verwandlung der Menschheit. Die beiden Helden kletterten auf den Kopf der Schlange und reisten am linken Ufer des Flusses stromaufwärts. Jedes Mal, wenn sie haltmachten, gründeten sie ein Haus und füllten es mit Hilfe ihrer reichen magischen Fähigkeiten mit Menschen. Und die zukünftige Menschheit verwandelte sich, Haus um Haus. Wenn aber das Boot unter Wasser reiste, wurden die Häuser überflutet, so dass die Bewohner zu Fischmenschen wurden, die in ihren Unterwasser-Wohnstätten lebten.
Nichts war so schön wie diese blühende Erzählung: Sie erlaubte einen Blick auf eine Welt voll Unschuld und ruhiger Freiheit, auf einen Alltag, in dem jeder Augenblick ein Fest war, ein übernatürliches Spiel mit Wesen und Dingen. Hier lag das Geheimnis des Glücks verborgen, in diesen uralten Worten. Mit Aynoré auf die Suche nach seinem Volk gehen, gemeinsam dies ursprüngliche Einssein mit dem Fluss, den Vögeln, den Elementen suchen: Moéma fühlte sich vollkommen bereit zu einer solchen Rückkehr zu den Ursprüngen. Nicht als Ethnologin, sondern als Indianerin aus Herzensüberzeugung. Aus Glut für die Dinge selbst. Das war das Leben, sonst nichts.
So wuchs die Menschheit und ging gradweise und unspürbar von der Kindheit in die Jugend über. Und als sie beim dreißigsten Haus waren, also bei der Hälfte ihrer Reise, beschlossen die beiden Zwillinge, dass es Zeit sei, die Menschen reden zu lassen. An diesem Tag vollzogen sie ein Ritual mit ihren Frauen: Die eine rauchte die Zigarre, die andere kaute Ipadu. Die Frau mit der Zigarre gebar das heilige Caapi, das noch kräftiger ist als das Ipadu; die Frau mit dem Ipadu gebar die Papageien, Tukane und anderen Vögel mit bunten Federn. Und von den beiden Frauen lernten die Männer das Zittern, die Angst, die Kälte, das Feuer und Leiden kennen, all das, was sie an ihnen während jener Geburten beobachteten.
Und die Macht des Kindes Caapi war so gewaltig, dass die gesamte Menschheit phantastische Visionen hatte. Niemand verstand mehr etwas, und die dreißig Häuser begannen in verschiedenen Zungen zu reden. So entstanden die Sprachen Desana, Tukano, Pira-Tapuia, Barasana, Banwa, Kubewa, Tuyuka, Wanana, Siriana, Maku und schließlich auch die der Weißen.
»Caapi«, sagte Aynoré, »ist eine Art Liane, aus deren Rinde man ein Getränk macht, das ist tausendmal stärker als alles, was du bislang probiert hast. Frauen dürfen es bei uns aber nicht trinken. Es ist eine heilige Pflanze, die Liane der Götter, das Seelengewächs …« Er hatte im Männerhaus oft davon getrunken, und die Wirkung war vollkommen wahnsinnig: Man begegnete dem Großen Meister des Jagdwildes, erlebte unglaubliche Kämpfe von Schlangen und Jaguaren, entdeckte hinter der Illusion des normalen Lebens die wirklichen, unsichtbaren Mächte. »Ich hatte keinen Willen mehr«, sagte Aynoré, »keine eigene Kraft. Ich aß nicht, ich schlief nicht, ich dachte nicht; ich war nicht mehr in meinem Köper. Gereinigt stieg ich auf, eine in Zeitlupe im Raum zerberstende Glaskugel. Und ich sang denjenigen Ton, der diese Kugel auseinanderfliegen lässt, und denjenigen, der das Chaos zunichtemacht, und ich war von Blut bedeckt. Ich war bei den Toten, ich habe das Labyrinth besucht …« Denn es gab eine Welt jenseits der unsrigen, eine zugleich sehr nahe und sehr ferne Welt, in der alles bereits geschehen und bekannt war. Und diese Welt sprach, sie hatte eine eigene Sprache, eine subtile Rhetorik aus Rauschen und Farben. Blaue Visionen, violett oder grau wie der Tabakrauch, und sie beschworen Welten herauf, die den Gedanken unbekannt waren; blutrote Visionen, ähnlich der Schleimhaut der Frau, ihrer Fruchtbarkeit; weiße oder hellgelbe Visionen, ähnlich dem Sperma oder der Sonne, und durch sie geschah eine mystische Einheit mit den Anfängen. In unbeschreiblicher Helligkeit erschien jedes Ding von seinen Zusammenhängen abgelöst, aufgeladen mit einem neuen Sinn, einem ungeahnten Wert. Nach der Zeremonie, wenn man aus tiefem, traumschwerem Schlaf erwachte, zeichnete oder malte jeder auf, was er gesehen hatte. Es gab keine Dekoration, keine Tätowierung, die nicht von diesen Reisen zu den Halluzinationen inspiriert war! Und so viele Sprachen gab es für den Versuch, all das zu sagen, wieder und wieder das auszudrücken, was man nicht dem
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