Wo Tiger zu Hause sind
kümmmerten … Ein Grüppchen von ein paar Männern, sein Vater an der Spitze, hatte Widerstand geleistet; sie waren tot, abgeschossen wie die Affen bei einer Menschenjagd im Dschungel.
Aynoré war da erst zwölf Jahre alt, aber er weigerte sich, mit ins Reservat zu ziehen; also brachte ihn der FUNAI -Vertreter rasch im Waisenhaus der Dominikaner in Manaus unter. Dort hatte er Lesen und Schreiben gelernt, doch ohne sich je dieser Religion anzuschließen, deren schwächlicher Gott sich in einem Land ohne Dschungel noch Aras hatte ans Kreuz schlagen lassen. Dann kam er in ein Internat desselben Ordens in Belém. Bald hatte er sie in Sicherheit gewiegt und konnte mit dem Geld der Hausverwaltung fliehen. Dank seiner geschickten Hände schlug er sich seither mit der Herstellung von gefiedertem Halsschmuck und Ohrringen durch, die er ohne Lizenz auf der Straße verkaufte.
Aynoré streichelte Moémas Haar. Im Rausch verfiel seine Stimme in einen zeremoniösen Tonfall, verbog sich manchmal in Dialogen bis zur Unkenntlichkeit, wurde spitz verzerrt wie die eines Bauchredners. Sie lauschte ihm mit frommer Ergriffenheit, Bilder zogen vor ihren Augen entlang, Gänsehaut überlief sie. Mehr noch als von ihrer Poesie war sie von dem unvordenklichen Alter dieser Litanei hingerissen. Eine Faszination, die von Groll auf die Weißen und ihre knechtische Frömmigkeit durchsetzt war. Welch eine furchtbare Vergeudung! Sie hatte die Zahlen des Grauens mit einem solchen Entsetzen auf der Universität gelernt, dass sie sie auswendig wusste: zwei Millionen Indios bei der Ankunft der Spanier und Portugiesen, weniger als einhunderttausend heute … »Die Indios sind sonder Zahl«, hatte sie in den Aufzeichnungen eines Reisenden aus dem 16 . Jahrhundert gelesen, »und wenn man einen Pfeil in die Luft schießt, ist es wahrscheinlicher, dass er auf dem Kopf eines Indios landet denn auf dem Boden!« Der betreffende Autor sprach von den Varzéas, einem Stamm, der den damaligen ersten Versuch einer »Volkszählung« keine hundert Jahre überleben sollte … Tupi, Anumaniá, Arupatí, Maritsawá, Iarumá, Aualúta, Tsúva, Naruvôt, Nafuquá, Kutenábu und so viele andere – dezimiert. Allein im 20 . Jahrhundert waren in Amazonien mehr als neunzig Stämme ausgestorben … Welche unergründlichen Schicksale haben wir auf diese Weise verloren? Welche möglichen Welten, welche positiven Entwicklungen? …
Ein Land ohne Menschen für Menschen ohne Land!
Im Namen dieses großzügigen Slogans hatte die brasilianische Regierung die Transamazônica gebaut: 5000 Straßenkilometer, um weißen Siedlern neue Anbaugebiete zu erschließen. Alle zehn Kilometer beiderseits der Straße einhundert Hektar urbar zu machender Wald, eine bereits fertig hingestellte Hütte, sechs Monate Gehalt und zinsfreie Kredite auf zwanzig Jahre: Da hatten viele halbverhungerte Bewohner des Nordeste angebissen. Allerdings lebten überall auf diesem
Land ohne Menschen
Indios, aber die zählten ebenso wenig wie Fauna und Flora, die dem Straßenbauprojekt geopfert wurden; ebenso wenig wie in der Zeit der Kautschukplantagen, als man den schamlosen Wilden freundlich lächelnd Kleidungsstücke schenkte – die allerdings mit Windpocken- und anderen todbringenden Keimen geimpft waren.
Niemand aber hatte vorhergesehen, dass der dem Urwald abgerungene Ackerboden nach zwei Ernten ausgelaugt sein würde, und so kauften heute die Rinderbarone das Land für einen Spottpreis von den verschuldeten Siedlern, den armen Teufeln, denen das trockene Elend im Sertão immer noch lieber war als diese Wüste aus Wasser. Das für die Asphaltierung der Trasse vorgesehene Geld war irgendwo versickert, so dass sich die Transamazônica in der Regenzeit in einen unbefahrbaren Strom aus Schlamm verwandelte, jeden Tag ein wenig mehr vom Urwald zurückerobert. Angestoßen von der Beharrlichkeit der US -Amerikaner, die in der Region Carajás um jeden Preis ein paar Millionen Quadratkilometer Boden kaufen wollten, hatte man dort irgendwann reiche Vorkommen an Eisenerz, Nickel, Mangan und in der Serra Pelada sogar Gold entdeckt. Die Minen und Tagebaustätten hatten diesen Garten Eden endgültig vernichtet, alles hatte dran glauben müssen: Urwald, Indios und die Träume von einer Agrarreform. Diese gnadenlose Posse hatte einzig dazu geführt, die unverwüstliche Kaste der Absahner weiter zu bereichern – eine chronische, niederschmetternde Ungerechtigkeit, die Moéma plötzlich die Kehle zuschnürte wie
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