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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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spießt ihn an die Tür. Er befreit sich, schwankt kurz … Trotz seines Aufschreis könnte man noch an ein Wunder glauben, doch auf seinem Rücken ist ein großer dunkler Fleck, genauso wie an der hölzernen Tür an der Stelle, wo die Klinge eingedrungen war. Man sieht, wie er mit letzter Kraft die Fackel zu den Pulverfässern schleudert und sich ins Magazin schleppt … Alles fliegt in die Luft, aber man ahnt schon, dass Davy Crockett umsonst gestorben ist.
    Sie war zwar nicht imstande zu erkennen, wie lächerlich diese Situation war, aber das Absurde daran sah Loredana durchaus: All das war der reinste Albtraum, wie nach einem allzu üppigen Essen oder einem schlechten Zeugnis. Montefiascones missbilligende, heimtückische Stimme mischte sich mit dem Schlachtenlärm.
    Jim Bowie, mit starrem Bein auf dem Bett in der Ruine der Kapelle, wo die Verletzten gepflegt werden, bewacht von seinem alten schwarzen Sklaven, den er vor dem Angriff freigelassen hat und der sofort um die neugewonnene Freiheit kämpfen muss. Die Mexikaner stürmen die Kapelle, beide Männer feuern die Magazine ihrer Waffen leer, Gewehr, Trichterbüchse, Pistolen. Die Bajonette nähern sich Jim Bowie, gleich durchbohren sie ihn … Nein! Der alte Sklave hat sich über seinen Meister geworfen, als lebender Schutzschild. Leib auf Leib … Der Dolch! Obwohl von der Leiche behindert, gelingt es Bowie noch, einen der Angreifer zu töten. Großaufnahme seines Gesichts: Von allen Seiten bohren sich die Bajonette in den gestampften Lehmboden. Man sieht diejenigen, die den Helden verfehlen, hört dafür die Treffer: Der schrille Schrei eines abgestochenen Schweins, gurgelnde Geräusche, würgende Krämpfe, sperrangelweit geöffneter Mund … der blanke Tod in all seiner unverhüllten Hässlichkeit.
    Die Welt funktionierte nicht, wie sie sollte, sie war grau, ungerecht, übelriechend … Eine großangelegte Verschwörung arbeitete von jeher an der Vernichtung von Davy Crockett und den Seinen … Als es so weit war, hörte Loredana sich selbst ein paar lässliche Sünden aufsagen, und dann gestand sie mit fahler Stimme in eine nur vom Knattern der Fahnen unterbrochene Stille hinein, sie habe mit ihrem Vater geschlafen.
    Die gesamte mexikanische Armee in Habachtstellung, um den beiden einzigen Überlebenden des Massakers zu salutieren: einer Mutter mit ihrer kleinen Tochter; sie sitzen auf einem Maultier wie einst Maria auf dem Weg nach Bethlehem. So reiten sie von dannen, geschlagen, blasse Gesichter voll Unglück und Vorwurf, während ihnen zu Ehren stupide Trompeten ertönen. Als sie vor General Santana entlangreiten – trotz seines Zweispitzes ist er Padre Montefiascone wie aus dem Gesicht geschnitten! –, kann die Mutter nicht anders und wirft ihm einen hasserfüllten Blick zu. Ihre kleine Tochter ist stärker, sie ignoriert ihn, ihn und sein Universum. Sie ist über Hass und Verachtung erhaben. Reif für die Roten Brigaden …
    »Mit deinem Vater!«, rief der Mann im schwarzen Rock entsetzt und wandte ihr erstmals den Kopf zu. Ja, Herr Pfarrer. Vor allem jetzt nicht wanken und nicht weichen, dem Verhör mit Größe und mit Würde standhalten, nötigenfalls sterben wie John Wayne und Richard Widmark. Ja, in seinem Bett … In der legendären Nacht, wo der Blitz im Haus des Feldhüters einschlug. Ja, meine Mutter war auch da … Du bist zu groß, um bei deinen Eltern im Bett zu schlafen, sagte Padre Montefiascone, erleichtert angesichts dieses freiwilligen Zusatzgeständnisses.
Dominus, abracadabrum sanctus, te absolvo
, und fertig. Offenbar war es erlaubt, mit seinem Vater zu »schlafen«, und sogar mit der Mutter; die Strafe war nicht zu schwer: Drei Ave Maria, und dann geht’s fröhlich weiter, reingewaschen darf man gehen, der schlimmsten Sünden ledig, ohne einen weiteren Blick auf die Leichen von Davy Crockett und Jim Bowie.
    An jenem Abend hatte Loredana gelernt, dass der Mensch ein unbehaustes Wesen ist, anheimgegeben der Ungerechtigkeit, dem Leiden und dem Verderben. Und seit sie einst in Alamo ein erstes Mal gestorben war, konnte sie nie wieder einen Geistlichen oder Militär sehen, ohne ihm innerlich ins Gesicht zu spucken.
     
    »Wir müssen
alle
mal sterben …« Soledade schaltete den Fernseher aus.
    Obwohl Loredana nicht gefühlsduselig sein wollte, verletzte diese augenscheinliche Kälte sie doch. Das schien Soledade ihr anzumerken, denn sie redete freundlicher weiter: Wichtig sei nicht zu wissen, wann und wie wir sterben,

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