Wo Tiger zu Hause sind
Kurz und gut, die Mutter wollte am liebsten sterben angesichts der Schande.
Der Pfarrer, eiligst angerufen, hatte noch einen draufgesetzt: Loredana Rizzuto? Er bedaure zutiefst, aber ein Kind dieses Namens sei ihm unbekannt … Obwohl … Meine man vielleicht die kleine Heidin, die kurz vor der Kirche immer abbog und in die Hügel spazierte? Es sei traurig, das sagen zu müssen, und es werde ihren Eltern gewiss viel Ungemach bereiten, aber es sei ihm natürlich vollkommen unmöglich, diesem Kind morgen die Kommunion zu erteilen. Gar kein Gedanke, diesem Kind den Leib Christi auszuteilen, das käme einer Todsünde gleich, darauf wies er die Mutter eindringlich hin … Der gute Padre Montefiascone! Lange hatte er sich bitten lassen, bis er einwilligte, das verlorene Schäflein wieder in den Schoß der Kirche aufzunehmen. Man könne das mit der Kommunion möglicherweise noch einmal überdenken, doch dann müsse sie unverzüglich beichten kommen. Nein, nicht in die Kirche, sondern in seine Wohnung auf der Straßenseite gegenüber. Das sei eine große Ausnahme, er hoffe, dass Signora Rizzuto sich dessen bewusst sei, er handele aus reiner Barmherzigkeit … Der Leib des Herrn ist nicht zu kaufen, Signora Rizzuto, aber die Armen der Gemeinde dankten ihr durch seine Stimme für diese unerwartete Gabe …
Jetzt ging Loredana also ihrem Schicksal entgegen, drei Schritte vor, einen zurück, bloß ja nie auf die Spalten zwischen den Bodenplatten treten, träge über die Abflussdeckel springen, als hätte sich das Dorf in ein riesiges Hüpfspiel verwandelt. Je näher sie kam, desto drängender wurde die heikle Frage der Sünden; da sie nie gebeichtet hatte, wusste sie nur vom Hörensagen, dass man dort seine »Verfehlungen« zu gestehen hatte, je schlimmere, desto besser, und dann wurde einem verziehen, mit einer variablen Anzahl von Gebeten als Gegenleistung. Sie konnte sich den Kopf zerbrechen, so viel sie mochte, ihr wollte nichts Geeignetes einfallen. Nichtigkeiten wie »Ich habe es meinen Eltern gegenüber an Gehorsam fehlen lassen« oder »Ich habe den Katechismusunterricht geschwänzt« schienen ihr albern und der Beichte unwürdig, und so beschränkte sie sich darauf, die Verben aufzuzählen, deren teuflischer Ruch ihr klar war, ohne dass sie irgend wusste, welche Vergehen sie bezeichnen mochten: ficken, vögeln, Unzucht treiben, berühren, sich berühren …
Als sie beim Pfarrer klingelte, dunkelte es bereits. Eine alte Frau öffnete ihr, murmelte etwas von wegen, das sei ja reichlich spät, und schob sie die Treppe hinauf. Loredana sollte sich später immer der Farbdrucke mit den Stationen des Kreuzwegs erinnern, die neben der Treppe hingen, und des Maschinengewehrfeuers, das sie begleitete, während sie die Stufen erklomm. Von den Schüssen geleitet, fand sie Montefiascone vor einem Resopalfurnier-Fernseher mit goldenen Knöpfen sitzend; auf dem Bildschirm sorgte John Wayne alias Davy Crockett gerade für die Verteidigung eines belagerten Forts. Die Soutane, die Zierdeckchen, die Stiche mit dem heiligen Ignatius und der Muttergottes … als würde der Fernseher eine ansteckende Wirkung haben, zeigte sich die gesamte Wirklichkeit um sie herum auf einmal in Schwarzweiß. Verdrossen ob der Störung, grüßte der Pfarrer sie kaum. Ohne auch nur aufzustehen, ließ er das Mädchen auf dem Teppich knien, dem Fernseher zugewandt, dicht neben seinem Sessel, und gebot ihr, das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Loredana musste erst zugeben, dass sie das nicht beherrschte, dann ein Unwetter über sich ergehen lassen und schließlich die Formeln wiederholen, die er ihr verächtlich vorsagte.
Die Schlacht auf dem Bildschirm neigt sich ihrem Ende zu. Davy Crockett sieht sich von der Übermacht der Angreifer zurückgedrängt, ringsum fallen seine Kameraden einer nach dem anderen. Das Fort steht in Flammen, die letzte Barrikade wird von der Kavallerie überritten. »Adelante!« Mit aufgesteckten Bajonetten rückt eine Front von Husaren mit weißen Koppeln Schritt um Schritt vor, der Bildschirm ist voll von ihnen. »Bedeutet das, was ich glaube?«, fragt ein Mann, der neben einem Verletzten mit Fellmütze zu Boden sinkt. »Ja …«, antwortet der und blickt dem Soldaten, der sich anschickt, sie beide zu töten, unerschrocken in die Augen. Eine Fackel in der Hand, läuft Davy Crockett vom Wall, wo er die letzte Kanone bediente, zur Pulverkammer. Bevor er sie betritt, wendet er sich um, da nutzt ein Bajonett die Gelegenheit und
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