Wo Tiger zu Hause sind
zitternd. Rasend schnell klapperten ihre Lider und ließen das Elfenbein ihrer weggekippten Augen sehen. Ein wenig Schaum trat in ihre Mundwinkel, als man sie mit sanftem Zwang zu ihrem Sessel brachte. Dort beruhigte sie sich, verharrte reglos, in Trance erstarrt, öffnete die Hände. Sie lächelte. Doch was für ein Lächeln das war! Ihr Gesicht strahlte die heitere Gelassenheit der Khmer-Statuen oder der rätselhaftesten Koren aus. Indessen drängte sich Loredana eine andere Erinnerung auf, an ein Antlitz in einem Film, den sie vor Jahren gesehen hatte. An den Namen des Regisseurs erinnerte sie sich nicht; er war darauf verfallen, Tausende von Passfotos abzufilmen, Männer und Frauen durcheinander, alle Rassen, Alter und Gesichtsbehaarungen gemischt. Ab einer bestimmten Geschwindigkeit hatte sich etwas Unglaubliches ereignet: Aus der raschen Abfolge dieser Individuen geboren, zeichnete sich ein Gesicht ab, ein einziges, ruhiges, unwirkliches Gesicht; es war weder die Summe noch das Kondensat der vielen versammelten Bilder, sondern etwas, das sie transzendierte, etwas Gemeinsames, allgemein Menschliches, hier erstmals dargestellt. Als hätte man die Tür zum Geheimnis aufgestoßen oder einen ihrer eigenen Träume vor ihr projiziert. Loredana hatte an Gott gedacht … Als die Projektionsgeschwindigkeit abnahm und diese Vision einem schlichten Stroboskop-Effekt wich, dann Einzelbildern, auf denen wieder individuelle Züge wahrnehmbar waren, hatte sie sich schrecklich frustriert gefühlt. Auf ewig hätte sie diese Epiphanie vor Augen haben, sich in unablässiger Betrachtung daran laben mögen, ohne sonst etwas zu tun, so sehr stillte dieser Anblick alle nur denkbaren Wünsche. Und hier hatte es sich erneut offenbart, wie eine gläserne Maske auf Mariazinhas Gesicht liegend …
Ialorixá!
Loredana schrie ihre Freude gemeinsam mit allen Gläubigen heraus, zu Tränen gerührt durch den Gleichklang mit den anderen. Sie hatte nicht als Einzige das Namenlose auf dem Weidenthron erkannt.
Mariazinha streckte die Hände aus, um die Versammlung zu segnen, und Loredana entdeckte etwas, das sie unglaublich verwirrte: Der Priesterin Omulús fehlte an der linken Hand der Daumen … Doch da warf sich jemand auf den Boden, und es war Soledade, in eine wirbelnde Gliederpuppe verwandelt. Kurz rang sie mit einem übernatürlichen Gegner, schlug in die Luft, schützte ihren Kopf, dann erstarrte sie, von Krämpfen geschüttelt. Mariazinha erhob sich in ihrem Sessel:
»Exú ist in sie gefahren!«, schrie sie mit entstellter Stimme.
»Saravá!«
»Saravá!«
, wiederholte die Menge, während Soledade sich affenartig wand, am ganzen Körper zuckend.
»Exú Caveira, Herr der Sieben Legionen!«, rief Mariazinha. »Exú Totenkopf! Komm herab, Omulú, du Fürst aller! Erweise uns die Gnade! Komm herbei!«
Loredana traute ihren Augen kaum. Wie vorhin das Wort »Idol«, so war für sie bisher »Trance« nichts als ein Begriff im Wörterbuch der Anthropologie gewesen, ein hysterisches Phänomen, dem nur schwache oder vom Irrationalen bewohnte Geister unterliegen konnten. Freilich, sie war auf etwas in der Art gefasst gewesen, doch dass es so leichthin geschehen konnte, erstaunte sie mehr als die Trance selbst. Soledade wirkte wie eine echte Irre, sie tanzte, rollte mit den Augen, redete in Zungen, mimte irgendeine primitive Szene, leeren Blicks, Sabber auf den Lippen, sie wälzte sich in den Aschenfiguren am Boden, stand wieder auf, begann von vorn. Die Heftigkeit des Anfalls bestürzte Loredana so sehr, dass sie fast Verachtung für ihre Freundin empfand, gemischt mit Mitleid und Sorge.
Niemand schien sich über diese Zurschaustellung zu wundern. Die Schweigekönigin schenkte unverdrossen
jurema
nach und stopfte die Pfeifen mit jener Mischung, deren Wirkung die des Alkohols vervielfachte; hin und wieder ließ ein Mann oder eine Frau die Kalebasse fallen und warf sich mitten ins Mysterium, konvulsivisch zuckend, entstellt, von einem jener Geister besessen, deren Namen Mariazinha dann sogleich ausrief – Exú Brasa, Eisenbrenner; Exú Carangola, Sidragosum; Exú da meia-noite, Haël; Exú pimenta, Trismaël; Exú Quirombô, Nel Biroth! – und sie wieder und wieder anflehte, bei Omulú, ihrer aller Meister, für sie Fürsprache zu halten. Die entfesselt auf dem Boden Tobenden wurden verlacht, man machte sich über ihre Bewegungen und Mimik lustig. Das alles überstieg Loredanas Fassungskraft bei weitem; sie trank und rauchte alles, was
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