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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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großer Furcht erfüllte.
    »Abgeschiedenheit!«, murmelte er seltsam lächelnd, und zwar auf Deutsch, das er hier sonst nie benutzte. »Ich bin nackt, ich bin blind, & ich bin nicht mehr allein … Schau, Caspar, diese Welt vergeht. Was? Sie vergeht doch nicht, es ist nur Finsternis, die Gott in ihr zerbricht! Ja, brenne! Verbrenne mich mit deiner Liebe!«
    Und dazu bewegte er Hände & Füße genauso, als träfen sie auf glühende Kohlen. An diesen Zeichen erkannte ich die göttliche Gegenwart & das ungeheure Privileg, das Kircher in diesem Moment zuteilwurde. Doch begriff ich auch, dass er vor lauter frommer Glückseligkeit zu keinem gesellschaftlichen Umgang mehr fähig war; und so brachte ich ihn unverzüglich ins Collegium zurück.
    Sobald er in seinem Zimmer angelangt war, in das ich ihn einem Kinde gleich hatte führen müssen, kniete Kircher sich auf seine Gebetsbank; & weit davon entfernt, zu verblassen, nahm seine Verzückung eine bemerkenswerte & in mancherlei Hinsicht erschreckliche Wendung …

Alcântara
    Etwas Dunkles, Schreckliches.
    Loredana bereute nicht, sich Soledade anvertraut zu haben, doch derart auf sich selbst zurückgeworfen, fühlte sie sich ganz verloren.
    Als Soledade ihr zwei Tage später mitteilte, Mariazinha erwarte sie für denselben Abend, wusste sie mit dem Namen erst nichts anzufangen. Sie hatte keinerlei Lust mehr, diese Frau zu treffen, die sie angeblich von allem Leid kurieren würde, doch mit Rücksicht auf Soledade, die sich sehr um diesen Termin bemüht hatte und sichtlich stolz auf ihre Rolle als Vermittlerin war, wollte sie sich nicht sträuben.
    Soledade holte sie abends im Hotel ab; sie brachen sofort auf, niemand bemerkte sie. Unterwegs musste Loredana der jungen Frau spärliche Antworten auf die Fragen, die sie bewegten, aus der Nase ziehen. So erfuhr sie, dass sie zum
Terreiro
von Sakpata unterwegs seien, wo an diesem Abend eine Versammlung stattfinde … eine
Macumba
; die Heiligenmutter würden sie kurz vorher treffen, da nicht sicher sei, ob eine Fremde an der Zeremonie teilnehmen dürfe. Was ein
Terreiro
und eine
Macumba
genauer seien, erfuhr Loredana nicht, denn Soledade hatte irgendwann erklärt, sie sei nicht befugt, solche Details zu verraten. Da sie verschlossen dreinschaute, ganz anders als sonst, hakte Loredana nicht weiter nach.
    Sie ließen die Hauptstraße hinter sich, dann die letzten Steinhäuser, und drangen über einen Pfad auf die Halbinsel vor, der nur dann und wann an einer von Babassu-Palmen umstandenen Hütte vorbeikam. Obwohl es an den Tagen davor nicht geregnet hatte, klebte die rote Erde an den Sandalen und machte das Gehen mühsam. Ein reglos dastehendes Zeburind mit eingefallenen Seiten; ein magerer Hund, zu verhungert, um ihnen nachzubellen; ein paar in farblose Fetzen gehüllte ausgehungerte Gestalten, die verloren ins Leere blickten … So weit hatte Loredana sich noch nie ins Elend vorgewagt. Eine bedrückende Not, ein Gewitter kurz vorm Ausbruch, hier viel sichtbarer als auf den Straßen von Alcântara oder São Luís. Der Weg wurde immer schmaler, in der rasch einbrechenden Dunkelheit erbebte das fahlgrüne Laubwerk der großen Bäume: Kurz war es Loredana, als begebe sie sich zu einer Begegnung mit der Nacht selbst.
    Nach dreiviertelstündigem Marsch gelangten sie unter das Blätterdach eines riesigen Mangobaumes, dessen aufgedunsener, von seinen Sprossen verdickter Stamm sich wand wie Laokoon unterm Angriff der Schlangen. Ein Baumstamm wie im Märchen, grünlich schimmernd, wie mit Tentakel versehen; unter der Krone hätte ein ganzes Volk von Hexen Platz gehabt.
    »Jetzt sind wir gleich da.« Soledade bog in einen von den Wurzeln verborgenen Durchschlupf ein.
    Zwischen den Bäumen, am Ende einer perfekt festgestampften Lichtung, so gepflegt, dass es nach der Katastrophenlandschaft, die sie eben durchwandert hatten, ganz unwirklich schien, tauchte Mariazinhas Haus auf. Loredana bemerkte sogleich, dass sich in der einst weißen, jetzt nach schmutzigem Ocker tendierenden Fassade keinerlei Fenster befand. Über der Eingangstür sah sie die Reste eines Holzkreuzes.
    Kaum waren sie über die Schwelle, wurden sie von einem kleinen Mädchen empfangen, das sie in einen Raum führte, in dem die Italienerin Gänsehaut bekam, so sehr ähnelte er dem rot-goldenen Durcheinander eines tibetischen Tempels. Beleuchtet wurde er von einer Vielzahl kleiner Öllämpchen, und er war voller Fetischfiguren aus bemaltem Gips – Indiohäuptlinge,

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