Wo Tiger zu Hause sind
alles, was man ihr hinhielt, ohne weiter Fragen zu stellen. Wenn Soledade ein klebriges, zuckendes Huhn, frisch geköpft, in den Händen drückte wie einen Weinschlauch, um den letzten Saft herauszupressen, hielt sie ihr lächelnd die Kalebasse hin. Nichts sonst war mehr wichtig. Der Nacht gehorchen – Mariazinhas Worte tanzten noch in ihrem Gedächtnis –, das Unerwartete auf sich zukommen lassen, die Dinge empfangen, alle Dinge, ohne sie zu benennen zu suchen … Die Statuette schimmerte im Glanz der Feuer. Baal Amon, Dionysos: trunkene Götter, verletzliche Götter, im Löschkalk der Massengräber gebleichte Gottheiten …
Mittlerweile verschlang man die Eingeweide der geopferten Hühner, da bildete sich auf einmal eine kleine Gruppe. In ihrer Mitte wälzte sich ein Mann mit allen Anzeichen eines Krampfanfalls auf dem Boden. Die Menge schrie Mariazinha entgegen: Sie brachte die Attribute aus Stroh und Muscheln; Omulús Umhang, die
xaxará
. Der Mann legte den Umhang an. Die Trommeln verstummten, und in der neuentstandenen Stille traten die Menschen langsam auseinander, von heiliger Angst ergriffen angesichts der albtraumhaften Gestalt, die jetzt auf der Tanzfläche stand. Auf Höhe der Augen liefen geflochtene Sehschlitze rundum, als wäre dieses Wesen imstande, nach allen Richtungen zugleich zu blicken. Eine Hand ragte aus dem Umhang, sie hielt das Szepter, und langsam tanzte die Erscheinung immer um den zentralen Pfosten, sich um sich selber drehend, ein um die starre Achse des Kosmos kreisender Körper.
Mit Mariazinha als Vorsängerin begrüßte die Menge ihren Gott:
Er kommt aus dem Sudan zurück,
Jener, der nur seine Mutter achtet …
Er humpelt, er schwankt vor Müdigkeit,
Jener, der auf den Friedhöfen umgeht …
A tôtô Obaluaê!
A tôtô Obaluaê!
A tôtô Bubá!
A tôtô Alogibá!
Omulú bajé, Jamboro!
Da war er, der so sehr ersehnte Gott, er tanzte, ruckartig, mal in kleinen Schlusssprüngen, mal mit krakenhaften Windungen. Wie Dunst legte sich die Trance über die Gemeinschaft der Gläubigen. Die einen eilten zu Omulú, um seinen Segen zu erhalten – einen Schlag mit der
xaxará
auf die Schulter –, andere sackten an Ort und Stelle blökend und zitternd zusammen. Die Frauen lösten ihre Frisuren und schüttelten wild den Kopf, das Gesicht vom Haar verschleiert. Alle tanzten im Rhythmus der entfesselten Trommeln; eine Art wilder Epilepsie herrschte auf dem gesamten
Terreiro
.
Loredana nahm an alldem als Zuschauerin teil. Auch sie folgte dem Trommelrhythmus, wiegte sich vor und zurück, behütet und isoliert inmitten dieser Bruderschaft von Blinden. Auch Soledade mit ihrem erstarrten Gesicht nahm sie jetzt nicht mehr wahr. Fast vergnügt betrachtete Loredana das seltsame Treiben, das auf einmal eine neue Wendung nahm: Eine Frau machte sich über einen Mann her, hob ihren Rock und nahm ihn, hier, an Ort und Stelle, vor allen anderen; ein Mann fiel über eine Frau her, ein anderer Mann über einen Mann … Eine orgiastische Brandung schwappte in die Nacht und umspülte sie. Der Gott höchstselbst unterbrach seinen Tanz, trat in die Menge für eine rasche Kopulation, kehrte dann zu seinen schwerfälligen Figuren in die Arena zurück. Die Glühbirnen brannten nicht mehr, doch jemand schien fortwährend Holz nachzulegen, denn dies Bacchanal ereignete sich im Goldschein hoher Flammen. Ein Unbekannter paarte sich mit Soledade. Und während beider Körper ihr Bein streiften, sah Loredana ihre Gesichter, erstaunlich ruhig, erstaunlich leer trotz der Heftigkeit des Aktes. Eine laszive Feierlichkeit, die sie beobachtete, ohne zu werten, und das Gefühl, jetzt die Grenze der Betrunkenheit überschritten zu haben und den festen Stand zu verlieren. Trotz des Restes von Vernunft, der sämtliche Sturmglocken läuten ließ, zwang sie sich zum Trinken, um diese Hürde zu überwinden, denn sie wollte allzu gern an der Raserei teilhaben, die ringsum herrschte. Etwas Grundlegendes waberte in diesem menschlichen Gewühl, etwas, das sie empfangen wollte, koste es, was es wolle, das ihr jedoch zugleich existentielle Furcht einflößte. Ein organisches Gebrodel, eine Gärung von Würmern und Mutterboden, eine Präsenz – und da auf einmal war Omulú vor ihr, reglos, entsetzlich, sein Geschlechtsteil ragte aus dem Umhang. Wie ein Kirchenfester im Wüten einer Feuersbrunst zerbarst ihre Vernunft in tausend Scherben. Ein paar Sekunden noch versuchte sie verzweifelt, die Bruchstücke zusammenzuklauben,
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