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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Gestalten, gespenstische Wesen, deren fahle Haut unter den vielfarbigen Glühbirnen leuchtete. Manche der älteren Mulattinnen waren in große weiße Tücher gehüllt, in denen sie aussahen wie Tahitianerinnen im Sonntagsstaat. Auf der anderen Seite des Geländes erkannte Loredana Socorró. Ihre Blicke begegneten sich, doch die Hotelangestellte schien sie zu übersehen. Loredana war von dieser Nichtachtung eher betrübt als überrascht; wahrscheinlich fand die alte Frau es unpassend, dass eine Ausländerin hier dabei war. Auch Soledade verhielt sich ihr gegenüber anders als sonst, distanziert, reserviert, obwohl sie ihr hin und wieder etwas zuflüsterte. So auch jetzt:
    »Die Schweigekönigin« – und sie deutete auf eine verschmutzte Heranwachsende, die ihnen eine mit
jurema
gefüllte Kalebasse reichte.
    Es war Mariazinhas Nichte, eine Taubstumme, die die ganze Versammlung bediente. Sie schöpfte das Getränk mit einer rostzerfressenen Weißblechkelle, aus der es ihr rot auf die Waden rann, aus einem großen Eimer. Ebenso stumm wie sie baumelte resigniert eine Traube schwarzer Hühner kopfunter an dem zentralen Pfosten … Grob geschnitzte Pfeifen kreisten, gestopft mit einer Mischung aus Gras und Tabak, von der es einen bei jedem Zug schwindelte. Von der nachtfeuchten Luft am Boden gehalten, waberte der Rauch wie eukalyptusduftende Nebelschwaden.
    Der Trommelrhythmus wurde schneller, während einige Männer Mariazinhas Weidenthron zu der nach hinten offenen Querseite des Hofs zwischen zwei Scheiterhaufen trugen, wo er nun den Rücken dem Dunkel zuwandte. Dann brachten sie einen kleinen Tisch, worauf die Nichte ein weißes Tuch legte und einen verhüllten Gegenstand, den sie mit einer undefinierbaren Furcht handzuhaben schien. Schüsseln mit Popcorn und Maniok kamen dazu, den traditionellen Opfergaben für Omulú, außerdem seine typischen Attribute: ein Umhang, der auch Oberkörper und Gesicht bedeckte und in einer Mütze mit Gucklöchern endete, und die
xaxará
, eine Art Szepter von magischer Kraft, wie Soledade erklärte, ein mit Armreifen aus Kaurimuscheln zusammengehaltenes Bündel von Schilfrohren. Nun wurden beiderseits dieses Altars die Feuer entzündet, die Trommeln verstummten, und alle Blicke wandten sich zum Haus.
    Ihre
jurema
-Flasche in der Hand, trat Mariazinha in die Mitte des
Terreiro
; sie trippelte seltsam, mit kleinen, eiligen Schritten, als würden Ketten ihre Knöchel behindern. Vor dem Pfosten blieb sie stehen, nahm einen Schluck aus der Flasche und blies ihn auf die Hühner. Dann stellte sie die Flasche ab, ergriff einen am Fuß des Altars stehenden Sack mit Asche, riss ein Loch hinein und rieselte große Figuren auf den Boden. Laut leierte sie Beschwörungen herunter, die von der Menge begeistert wiederholt wurden:
    São-Bento ê ê, São-Bento ê á!
    Omulú Jesus Maria,
    Eu venho de Aloanda.
    No caminho de Aloanda,
    Jesus São-Bento, Jesus São-Bento!
    Hinter sich ließ sie geometrische Figuren, Sterne und schwarzköpfige Schlangen.
    Sie trank wieder und rauchte am Rande des Geländes, wobei sie den Zuschauern den Qualm ins Gesicht blies. Jetzt humpelte sie, aber gespielt, das Taumeln eines Betrunkenen nachahmend. Wieder beim Altar, ganz in der Nähe der Stelle, wo Soledade und Loredana saßen, reckte sie furchtsam eine Hand nach jenem den Augen verborgenen Gegenstand. Mit einer einzigen Bewegung nahm sie den Stoff weg und wich zurück, wie von Magnetkraft abgestoßen. Die Trommeln wirbelten los.
    Loredana starrte auf die Statuette aus poliertem Holz, bei deren Anblick die Menge murmelte: Eine Art gehörnter Buddha, in Ruheposition sitzend – unter seinem angewinkelten Bein schien ein kleiner, im Halbrelief geschnitzter Affe einen Penis zu formen, der über seinen Kopf emporragte –, mit einer Schnauze wie ein Bock, in der sich auf seltsame Weise Freundlichkeit und Strenge mischten. Am Hals dieses asiatischen Beelzebubs baumelte noch einen Moment lang ein unvollständig mumifizierter menschlicher Daumen, bevor er reglos hängenblieb.
Eidos, eidôlon
, Imago, Götzenbild … Ein Idol! Angewidert wurde Loredana bewusst, was dieses Wort für Generationen entsetzter Juden und Christen bedeutet haben mochte, was es immer noch bedeutete für die ringsum versammelten Menschen. Etwas Dunkles, Schreckliches, wie eine zweite Haut vom Gott Bewohntes, wie seine eigentliche Form.
    Ein langes Ächzen durchlief die Menge; mit ausgebreiteten Armen stand Mariazinha vor dem Idol, an allen Gliedern

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