Wo Tiger zu Hause sind
lachende Teufel, Sirenen oder den Mond anbellende Hunde. Von der Decke baumelten jede Menge roter Papierfetzen, Gebetsbänder und Geldscheine. Von einer Statue des heiligen Rochus überragt – auf deren Sockel der Name eingraviert war, um jeden Zweifel auszuschließen – und umgeben von allerlei Plastikblumen, stand der Mittelpunkt des Heiligtums, ein großer Korbsessel. In ihm thronte eine alte Frau.
Mariazinha war klein, kugelrund und in einer Weise hässlich, die ihr hohes Alter schon fast wieder vorteilhaft erscheinen ließ. Ihre tiefdunkle Gesichtsfarbe stach von dem schlohweißen, fein gelockten Haar ab, das sie zu einem Knäuel auf dem Schädel aufgesteckt hatte; ihre Ziegenaugen schienen Dinge und Menschen nur anzublicken, um sie zu durchbohren; ihre künstlich klingende, raue Stimme, der wie von einer Halbseitenlähmung verzerrte Mund, wenn sie sprach, ihre ganze Erscheinung war von jener furchterregenden Verführungskraft der Hässlichkeit. Höchst skeptisch gesinnt, was die angeblichen Kräfte dieser Person anging, spielte Loredana das Spiel rein aus Höflichkeit mit. Mariazinha starrte ihr nur einfach in die Augen, eine unverständliche Litanei murmelnd, eine von ihrem Blick völlig unabhängige, davon abgetrennte Wörterflut, wie wenn beim Klavierspiel die Rechte und die Linke auf einmal die sonst im Körper herrschende natürliche Symmetrie brechen. Sie musterte die Ausländerin, las sie, wie ein Bildhauer, der die Mängel des unbehauenen Steins studiert, und kurz fühlte Loredana sich, als wäre sie ihres eigenen Abbilds beraubt.
»Du bist krank, sehr krank …«, sagte die Alte irgendwann, jetzt mit milderem Blick.
Na großartig, dachte Loredana, enttäuscht ob der Scharlatanerie des Orakels. Soledade hatte ihr berichtet, wie es um sie stand, so viel war sicher.
»Und ich wusste nichts von deinem Unglück«, sprach Mariazinha weiter, wie als Antwort auf den Unglauben, den man Loredana wohl ansah. »›Sie braucht dich‹, mehr hat sie nicht gesagt, die Kleine. Omulú will dir wohl, und er kann dich retten, wenn du bereit bist, ihn zu empfangen …«
»Muss ich nach Hause zurück?«, fragte Loredana unvermittelt, um sie auf die Probe zu stellen, und so, wie Zweifler manchmal die Karten oder die Sterne befragen, um sich in einer Entscheidung bestätigt zu sehen.
»Nach Hause? Irgendwann kehren wir alle dahin zurück, wo wir hergekommen sind … Darauf kommt es nicht an, sondern darauf zu wissen, wo wir sind. Wenn Omulú dir helfen kann, wird er es tun: Er ist der Arzt der Armen, der Herr der Erde und der Friedhöfe!
Eu sou caboclinha, eu só vi pena, eu só vim em terra prá beber jurema …
« Sie trank aus einer großen Flasche und hielt die dann Loredana hin: »Trink du auch. Lass dich vom Geist der
jurema
reinigen!«
Um einen Schluck zu nehmen, musste Loredana den Widerwillen überwinden, den ihr die dreckstarrende Flasche und die darin dick schwappende rötliche Flüssigkeit einflößten. Bitter war sie, sehr stark alkoholisch, hatte einen undefinierbaren Geschmack zwischen grünen Blättern und Hustensaft. Mariazinha musste komplett betrunken sein, wenn sie das Zeug da trank.
In diesem Moment erklangen Trommeln, sehr nah, mit einem Samba-Rhythmus.
»Sucht euch einen Platz«, sagte Mariazinha und geleitete sie aus dem Zimmer. »Und du«, meinte sie zu Loredana, »tu einfach alles, was die anderen tun, widersetze dich nicht dem, was die Nacht dir bringt …«
»Komm, hier entlang«, sagte Soledade, als sie allein waren. »Ich hätte nicht gedacht, dass du bei der
Macumba
dabei sein darfst, das ist toll! Du wirst sehen, so was habt ihr in Italien nicht …«
Loredana folgte ihr zu einer Tür, die hinten am Haus ins Freie führte. Dort blieb sie stehen, verblüfft von dem Anblick, der sich ihr bot: Beiderseits eines großen Rechtecks von glattgefegter Erde saßen rund fünfzig Männer und Frauen auf niedrigen Bänken oder direkt auf dem Boden. Am Schnittpunkt der Diagonalen war ein alter Telegraphenmast errichtet, von dem bunte elektrische Girlanden ausstrahlten und einen leuchtenden Baldachin über der Versammlung bildeten. Hinter ihren Instrumenten standen drei junge Trommler und genossen sichtlich ihre eigene Virtuosität.
Zu Loredanas großer Erleichterung wurden sie von den Leuten nicht weiter beachtet, die ganz selbstverständlich beiseiterückten und ihnen am Rand des Geländes Platz machten. Eine wimmelnde Menge, gottverlassene, vom Schicksal und Entbehrungen gezeichnete
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