Wo Tiger zu Hause sind
zeigen will, kann ich nicht einfach nur zwei Einschätzungen aus der Korrespondenz zwischen Peiresc und Gassendi oder Cassiano del Pozzo zitieren. Warum soll ich mich auf ihn mehr verlassen als auf Schott oder auf Kircher selbst? Eigentlich müsste ich jedes Detail ihrer Kontakte kennen, müsste das Leben von de Peiresc ebenso genau studieren wie Kirchers, und dann das von Gassendi, von Cassiano, und so weiter und so weiter … Es hat kein Ende!«
»Bei
Tschuang-Tse
gibt es eine kleine Geschichte, die das ganz gut versinnbildlicht. Der Kaiser befiehlt, man möge ihm eine möglichst genaue Karte von China zeichnen. Sämtliche Kartographen nehmen den Pinsel zur Hand und arbeiten drauflos, nur einer sitzt reglos in seiner Werkstatt. Als man ihn zwei Monate später fragt, wo das Ergebnis seiner Arbeit sei, deutet er einfach nur aus dem Fenster: Seine Karte ist so genau, dass sie ebenso groß ist wie das Reich: China selbst ist seine Karte …«
Eléazard lächelte. »Borges erwähnt das auch. Ein hübsches Paradox, aber worauf will es hinaus? Dass man nichts tun soll? Dass man keine Kircher-Biographie schreiben kann, solange man nicht selbst Kircher ist und alle anderen zugleich?«
»Für mich ist das ganz klar.« Loredana stand auf. »Wenn es um die Wahrheit geht, ist Genauigkeit nur so zu haben. Die eigentliche Frage ist ja: eine Landkarte, eine Biographie oder Anmerkungen zu einer Biographie, gut und schön, aber wozu sollen sie dienen? Wohin will man mit der Karte gehen? Welche Provinz will man erobern? Was sollen deine Anmerkungen beweisen? Dass Kircher unfähig war oder ein Genie oder nur, dass du über das Thema sehr viel besser Bescheid weißt als die meisten anderen Mitmenschen? Das Entscheidende ist nicht die Gelehrtheit, das weißt du sehr wohl, sondern was sie zeigen will. Eine schlichte Notiz von wenigen Zeilen kann treffender sein als achthundert Seiten über dieselbe Person …«
»Du bist wirklich bemerkenswert! Für dich zählt immer die Effizienz, was? Vorhin habe ich wirklich über dich gestaunt: Wir machen erstens das, zweitens das … Hast du gesehen, wie bewundernd Alfredo dich angeschaut hat? Als wärst du Evita Perón!«
»Die Leute sind nicht ganz so dumm, wie du denkst. Alfredo lässt sich zwar ganz gut beeindrucken, aber er ist komplexer, als es den Anschein hat. Wenn dir das irgendwann mal bewusst wird, hast du vielleicht auch weniger Probleme mit Kircher … Egal, ich muss ins Hotel. Ich bin todmüde … Du solltest auch lieber ins Bett gehen, wenn du morgen früh fit sein willst für die Fahrt nach Santa Inês …«
»Willst du ganz sicher nicht bleiben?«
Sanft, aber bestimmt nahm Loredana Eléazards Hand von ihrer Schulter.
»Ganz sicher nicht,
caro
… Mir geht es nicht gut, verstehst du?«
»Ist das wieder eines von deinen chinesischen Strategemen? Welche Nummer hat es denn?« Eléazard lächelte bekümmert.
»Hör auf, ja? Du irrst dich … bei Kircher, bei mir, bei so gut wie allem … Strategie ist das, was bleibt, wenn keine Ethik mehr da ist. Und wenn die Grundwerte fehlen, fehlt auch die Ethik. Wenn du an Gott glaubst oder etwas in der Art, ist alles viel leichter …«
»Genügt es nicht, an die Menschen zu glauben?«
»Als Grundwert? So viele Menschen, so viele Definitionen des Menschlichen gibt es auch … Höchstens kann ich an das Leben glauben, an die Gesamtheit dessen, was lebendig ist, aber doch nicht an die Menschen, die einzigen Lebewesen, die zum Vergnügen töten …«
»Aber doch auch die einzigen, die mit einem Bewusstsein begabt sind, oder? Jedenfalls soweit man weiß … Wo bleibt die Vernunft?«
»Was für ein Bewusstsein denn? Einem von sich selbst, von der eigenen totalen Freiheit, davon, dass Gut und Böse relativ sind? Kein einziges Konzept kann gegen die schlichte Tatsache bestehen, dass wir sterben müssen, und wenn wir davon überzeugt sind, dass danach nichts mehr kommt, dann ist alles erlaubt. Die Vernunft produziert kein bisschen Hoffnung, sie schafft es höchstens, der Hoffnungslosigkeit einen Namen zu geben …«
»Jetzt malst du aber allzu schwarz! Ich bin ganz und gar sicher, dass …«
»Ich kann nicht mehr«, unterbrach ihn Loredana. »Ein anderes Mal, ja?«
»Entschuldige bitte. Aber ich begleite dich.«
Auf dem Weg ins Hotel blieb Loredana kurz stehen, um die tanzenden Glühwürmchen zu betrachten, die vor den Fenstern eines leerstehenden Hauses glommen.
»Wie schön«, sagte sie. »Wie Kerzen für ein
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