Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
Fest.«
     
    Loredana lag auf dem ungemachten großen Bett. Fast sofort wusste sie, dass alle Hoffnung auf Schlaf vergebens sein würde. Sie dachte an die Ruinen von Apollonia und an jenen herrlichen Moment vor ein paar Monaten, in dem sie hatte sterben wollen, obwohl sie sich damals wohler fühlte als jetzt. Mit dem offen eingestandenen Plan, ein letztes Mal an ihre frühe Kindheit anzuknüpfen, war sie in die Kyrenaika gereist. Zwar waren die Libyer, die einst mit ihrem Vater gearbeitet hatten, gealtert, aber offenbar weniger als sie, denn Loredana erkannte sie sofort, die Leute aber hatten ein wenig Mühe, in der etwas linkischen Erwachsenen das quirlige kleine Mädchen wiederzuerkennen. Die auf einer Anhöhe gelegene Casa Parisi verschwand jetzt unter den Eukalyptusbäumen, deren junge Stämmchen sie zu ihrem Vergnügen heruntergebogen hatte, um dann zuzusehen, wie sie in die Sonne zurückschnellten. Shahat, die moderne Stadt, war heruntergekommen, als wollte sie sich den Ruinen anpassen, den dunklen Stimmen von Kyrene und der antiken Nekropole, ihrer Vorgängerin, lauschen. Das war besonders in Marsa Susa spürbar, dessen italienisches Viertel schon in ihrer Erinnerung nicht sehr frisch wirkte, jetzt aber aussah wie nach einem Bombardement. Das Zollgebäude, das Hafenamt, das Hotel Italia, die Cafés und Restaurants mit ihren schattigen Terrassen … all das existierte nicht mehr oder kaum mehr: In den ausgeweideten Gebäuden – manchmal halfen noch ein paar Buchstaben im abplatzenden Putz, die alte Bestimmung zu erraten – kletterten Ziegen umher und durchstöberten Müll. Allenthalben schienen schon halbversandete Karosserien von Autos oder Lastern einer zweifelhaften Zukunft zuzustreben. Rings um den Hafen flatterten Plastikfetzen an den Gerippen der Boote, die auf dem Uferstreifen sonnengebleicht waren wie Walknochen im Museum. Ein Schlepper thronte rostfleckig hoch über den Kais auf seinem letzten Trockendock. Ein paar junge Araber sprangen von den Aufbauten eines Lastkahns und dreier riesiger Prahme ins Hafenbassin. Verglichen mit diesem Schrottpanorama, war die Ausgrabungsstätte von Apollonia ein Muster an Urbanität und Sauberkeit: Hinter dem Gitterportal, das den Hafen absperrte, gleich unter dem Leuchtfeuer, versprachen die byzantinischen Säulenschäfte einen Garten Eden, in dem man möglichst schnell Schutz suchen wollte. Obwohl er die meiste Zeit auf der Agora von Kyrene gearbeitet hatte, sah sie ihren Vater vorm inneren Auge am liebsten und gerührtesten in diesem friedlichen Bezirk. Allfreitäglich stieg die kleine Familie hier herunter, über die alte Straße, die sich zwischen Sarkophagen und den im Geröll der Böschungen verborgenen Grabstätten schlängelte, lasziv wie ein Panther, durch den Djebel Akhdar, um dann jäh zum verheißungsvollen Meer hin abzustürzen. Sie sah sich selbst, wie sie dann den Strand entlangrannte, einen Duft wie von frischem Brot in den Nüstern, diese von Sand und Sonne verströmte Lebensfreude, die vom Ruf des Muezzins manchmal bis zum Rand des Unerträglichen gesteigert wurde. In einen weißen Satin-Badeanzug gekleidet und sanft gebräunt wie eine Filmschauspielerin, las ihre Mutter unter einem Sonnenhut, der aussah wie ein Lampenschirm, und brauchte nur aufzublicken, um ihren Mann zu sehen, wie er auf einem halb versunkenen Kapitell saß oder in der Hocke einen jener geheimnisvollen Sockel reinigte, die wie von Zauberhand unter seiner Kelle erschienen. Manchmal kam Professor Goodchild hinzu, führte seinem italienischen Kollegen die Fortschritte an seiner eigenen Grabungsstelle vor und lud ihn dann stets auf ein Glas Bourbon in die frühere Redoute ein, das Quartier der amerikanischen Archäologen. Hier hatte sich nichts wirklich verändert, nur dass eben ihr Vater nicht mehr da war, Goodchild ebenso wenig und alle anderen auch nicht – und das veränderte ihre Sicht der Dinge dann doch zutiefst. Nur die Ruinen waren dem einstigen Kind treu geblieben, in jener unverbrüchlichen Treue, die Hunden und Gräbern zu eigen ist.
    Sie hatte auf einen Freitag gewartet, um das Ausgrabungsgelände wieder zu besuchen, mit derselben fast schmerzhaften Ungeduld wie einst, wenn ihre Taucherbrille und die Schwimmflossen in den Jeep geladen wurden. Die Schienen der Feldbahn sahen noch hier und da zwischen den roten, von den Maulwürfen aufgetriebenen Erdschollen hervor. Von fern gesehen, wirkten die gleichmäßig aufgereihten Säulenreste der drei Basiliken wie aus dem

Weitere Kostenlose Bücher