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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Unterkünfte, um ein Stückchen Land zu besetzen. Nach und nach entdeckten die Leute von Pirambú die Solidarität wieder, die Kraft der Einigkeit. Mildtätige Seelen spendeten Lebensmittel, Medikamente oder große Plastikverpackungen, die zur Isolierung der Dächer benutzt wurden oder, zwischen zwei Pfosten gespannt, als Wände der x-ten Hütte. In der Favela Cuatro-Varas gab es jetzt sogar einen Gemeinderat, den ersten seiner Art; diese kleine, von allen gewählte Gruppe regelte interne Probleme und vertrat die Interessen des Slums gegenüber der Verwaltung. Das mochte alles nicht viel sein, aber es war da, und das zählte enorm.
    »Er hat mir das Haus gebaut. Und manchmal klaut er in den Trucks oder im Lager ein paar Dachziegel. Einfach so, für die anderen … Er bezahlt sogar Manoelzinho, damit der mir jeden Tag die Wassertonnen befüllt!«
    Peinlich berührt, winkte Onkel Zé, Nelson solle still sein, und wechselte das Thema. Dabei sagte sein Schützling die Wahrheit. Unter den Verrückten, denen das Schicksal der Welt nicht gleichgültig war, gab es die einen, die sich bemühten, die Dinge von Grund auf zu ändern, und andere, die sich darauf beschränkten, ihr eigenes Umfeld zu verändern, stückweise, auf ihre Art. Beide Haltungen ergänzten sich wahrscheinlich, das wurde Moéma jetzt bewusst; sie hatte bislang weder die eine noch die andere eingenommen, und wahrscheinlich würde sie auch dafür eines Tages einstehen müssen. Selbstgefällig empörte sie sich gegen den Genozid an den Urvölkern, doch was hatte sie konkret für die Indios getan, außer sie als Vorwand für ihre Jammertiraden und die eigene Unzufriedenheit zu nutzen? Hatte sie auch nur ein einziges Detail auf der Habenseite, um mit einem Minimum an Legitimität ein Mitspracherecht zu beanspruchen?
    »Das darf doch bei Gott nicht möglich sein«, sagte Onkel Zé, »keine zwanzig Jahre mehr bis zum Jahr 2000 , und drei Viertel der Menschheit nagen am Hungertuch? Wozu ist dann das Jahr 2000 nutze, kannst du mir das mal sagen? Alles wendet sich zum Schlechteren, Kleine, noch viel schlechter, als sie denken. Wir kommen kein Haarbreit voran, da muss doch irgendwann alles in die Luft fliegen …«
    Mit ihren Gewissensbissen erkannte Moéma, dass es nicht nur um die Yanomami und die Kadiwéu, sondern um die zahllose Menge der Benachteiligten insgesamt ging. Ihre Aufgabe stand ihr jetzt klar vor Augen; es galt zu bewahren, was noch an Menschlichkeit blieb, um jeden Preis, damit eine wirkliche Welt entstehen konnte, damit nicht jemand irgendwann ihrer Generation vorwarf, untätig geblieben zu sein, als es noch nicht zu spät war.
    »Sogar Padre Leonardo Boff haben sie rausgeschmissen … Dabei war das ein Franziskaner, ein echter. Der Papst, das Arschloch – entschuldige bitte, Prinzessin! –, dem müsste man die Eier abreißen dafür! Kriminell ist das … Tausende, Millionen Menschen sind wegen ihm gestorben!«
     
    Moéma erkannte immer mehr Zusammenhänge, sie fand sich selbst lieblos, geradezu kriminell nachlässig. Aber Onkel Zé rüttelte sie aus dieser genießerischen Selbstkasteiung:
    »Wenn du ein Glas zerbrichst, Prinzessin, dann kannst du die Stücke zusammenleimen, solange du willst, es bleibt ein zerbrochenes Glas. Viel besser, du kaufst ein neues, wenn du verstehst, was ich meine …«
    Moéma verstand. Ihr Leben, ihre Lebensillusion reparieren? Nein, etwas Neues beginnen, ihre Art des Zusammenlebens mit den anderen von Grund auf ändern. Aber wie? Das stand ihr noch nicht recht klar vor Augen, doch der erste Schritt führte nach Hause, zu ihrem Vater. Danach würde sie ihre Mithilfe anbieten, sei es hier in der Favela, sei es in der FUNAI bei den Indios, im Xingu-Reservat. Oder vielleicht in einer NGO , bei der UNESCO oder der UNO ?
Du glaubst gar nicht, was die uns für eine Scheiße schicken … ungleiche Schuhpaare, Teddybären, Brillen, so alt, dass sie schon Jesus auf dem Wasser wandeln gesehen haben … Alles, was sie nicht mehr brauchen! Und warum sollen wir es dann brauchen, hm? Und wenn sie Kohle schicken, dann bekommen wir den Scheck nur in der Zeitung zu sehen, und das war’s …»
Aber es gab hunderterlei Arten, sich einsetzen zu lassen. Und sie dachte: »Sich verzeihen zu lassen« – ohne sich klarzumachen, dass sie sich zuallererst selbst verzeihen musste, weil all ihre guten Vorsätze sonst ohne Wirkung, ja, ohne Sinn bleiben mussten.
    Dass sie in Gedanken schon die ehrenwerte Uniform der humanitär Tätigen

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