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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Gespräch mit Onkel Zé war eine entscheidende Etappe bei dieser Metamorphose. Spätnachmittags kam er zu Nelsons Hütte und blieb den ganzen Abend bei ihnen.
    »Hallo, Prinzessin!«, sagte er nur einfach. »Wie es aussieht, bist du ganz schön knapp davongekommen …«
    Moéma hatte ihn in seiner Gutmütigkeit sofort gemocht. Schon Nelson hatte gut von ihm gesprochen, und jetzt steigerte sich diese im Voraus übernommene Wertschätzung zu wahrer Bewunderung. Dank seiner vor allem konnte sie das, was sie so tief bestürzte, mit Worten benennen. In schlichten Begriffen und immer mit einer Behutsamkeit, die stärker wirkte, als alle Wut es getan hätte, erklärte er ihr die Favelas. Diese Randbezirke, deren reine Existenz sie immer bedauert hatte, diese schwarze, trostlose Welt gewannen jetzt enorme Ausmaße für sie, wurden so real, dass ihr früheres gutes Gewissen verschwand. Was Nelson ihr vorführte, schon rein mit seinem Dasein als kleiner Bettler, multiplizierte Onkel Zé in seinem Bericht mit derart erschreckenden Zahlen, dass sie sich auf einmal in der eigenen Stadt als Minderheit fühlte. Allein in Fortaleza lebten mehr als achthunderttausend Menschen in Slums, vegetierten unter fragwürdigsten hygienischen Bedingungen im Sand, in den Dünen. Hier herrschte die azurblaue Hölle der Tropen, sonnenverbranntes Elend, in dem mit nie erlahmender Energie die schlimmsten Auswüchse blühten: Kinderbordelle, Inzest, Epidemien – eben diejenigen, die angeblich ausgerottet waren –, der Hunger, der die Menschen dazu brachte, Ratten zu verspeisen oder die trockene Erde der Fahrrinnen zu essen, die unglaublichsten Entbehrungen, nur, um genügend Dachziegel anzuschaffen, die das Überleben einer Familie gewährleisten sollten:
Sobald ein Dach drauf ist
, lehrte Onkel Zé sie,
ist eine Verwaltungsprozedur von einem halben Jahr nötig, um einen ungenehmigten Bau abzureißen, ohne Dach kommt einfach der Bulldozer.
Die Abrissbagger kamen ohne Vorwarnung, wie eine Durchfallattacke oder ein Bauchkrampf, sie fraßen alles auf ihrem Wege weg, schufen freie Bahn für die Investoren, die dann den riesigen Betonriegel weiterbauten, den sie überall am Ufer errichteten. Protest, auch nur ein Murren? In die Menge wurde ebenso ungerührt hineingeschossen wie in einen Schwarm Spatzen. Und als würde das nicht genügen, gab es dazu die ewigen Kämpfe zwischen den Armen selbst, Alkohol, Heroin, die im Sitzen begrabenen Toten – manchmal stieß man mit dem Fuß an einen Kopf, wenn man pinkeln ging! –, die zahllosen Verrückten; das Klopapier, auf das die Betrüger, die sich selbst zum Vermieter deiner Hütte ernannten, eine Mietquittung kritzelten; die an die Geldsäcke und alle kinderlosen Seelen verkauften Säuglinge; der Strand der Harpunenfischer, an dem alle Welt vor aller Welt die Hose herunterzog und sein Geschäft machte; Kinder, Mädchen wie Jungen, die nackt herumliefen, bis sie acht Jahre alt waren, und auf einmal wegstarben mit ihrem hohlen Bauch, der Figur wie der eines Yogi … neunzig Millionen Mal Elend ohne Geburtsurkunde noch Ausweispapiere, mehr als die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens musste unter den schlimmsten Bedingungen vegetieren.
    »… Nicht mal als Sklaven, gerade noch so als Menschen, aber jedenfalls als Menschen … das ist Brasilien, Prinzessin. Nicht das, was du siehst, wenn du aus dem Fenster schaust.«
    »Das letzte Mal, dass sie die Bulldozer geschickt haben, dachten wir erst, sie holen endlich den Müll ab«, legte Nelson eins drauf. »Aber der Müll, verstehst du, das waren wir!«
    Was ihr bei den Fischern von Canoa noch als extreme Armut erschienen war, stand ihr auf einmal als glücklicher Zustand vor Augen, als beneidenswerter Luxus.
    Immerhin, ein gewisser Widerstand zeichnete sich ab. Dank der Arbeit einiger Idealisten – »Heilige sind das, Prinzessin, wahre Heilige!« –, die sich in der Favela niedergelassen hatten und das Leben der Slumbewohner teilten, entstanden nach und nach Sozialstationen, behelfsmäßige Ambulanzen, die kostenlose Behandlung und einen Ort, wo man sich treffen und reden konnte, boten. Vereine wie
Ein Stückchen Himmel
,
Unsere-Liebe-Frau-von-der-Gnade
oder die
Gemeinschaft der Guave
kümmerten sich um die Alphabetisierung der Kinder, teilten Nahrungsmittel an die zehn Familien aus, die tagtäglich neu auf der Düne eintrafen, von Trockenheit und betrügerischen Grundbesitzern aus dem Sertão vertrieben. Man half ihnen bei der Errichtung provisorischer

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