Wo Tiger zu Hause sind
sein … Sie selbst war in dieser Hinsicht auch nicht ganz unschuldig, denn sie hatte die Liebe ihres Vaters fast ebenso leichthin verraten – eine Liebe, die sich doch weder von ihren Launen noch ihrer Undankbarkeit hatte mindern lassen! Aber vielleicht war es ja noch nicht zu spät, vielleicht sollte sie ihm jetzt das sagen, was er vor einem halben Jahr hätte hören wollen. Dann verlor sie halt diese beiden Semester, aber die waren sowieso im Eimer, was soll’s. Ihm jetzt schnell schreiben, ihm von dem Umschwung erzählen, der sich ereignet hatte. In ihrer Verwirrung meinte sie, die Lösung schon in Händen zu halten, und klammerte sich daran wie an eine Rettungsboje.
Lieber Papa, wenn es dir immer noch recht ist, ziehe ich wieder zu dir. Es ist hart, seinem Vater zu schreiben, ohne ihn um etwas bitten zu können, aber ich kann dir das alles bald erklären … Diesmal flehe ich dich nur an, mir zu verzeihen. Ich umarme dich ganz fest –
»Moéma.«
»Und ich bin Nelson«, antwortete der Engel. »Ich hab schon gedacht, du bist stumm … Onkel Zé kann erst morgen kommen, aber wir schaffen das schon.«
Es war Nacht geworden; eine kleine Petroleumlampe brannte in der Hütte. Moéma entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte, bis er ihren Namen erfuhr. Sie trocknete sich die Tränen ab und ließ sich alles von Anfang an erklären.
Thaïs und Roetgen begannen erst zwei Tage nach dem Abend im Clube Náutico, sich Gedanken zu machen. Am nächsten Morgen gingen sie gegen Mittag zu ihrer Wohnung, dann noch einmal am Abend, ohne sich allzu große Sorgen zu machen; sie nahmen an, Moéma schlafe noch immer das LSD aus. Am nächsten Tag gingen sie noch einmal hin, gleich nach Xaviers Abreise – natürlich hatte der nicht am Morgen nach dem Fest lossegeln können. Da sie wiederum vor verschlossenen Türen standen, stellten sie sich vor, sie sei vielleicht außerstande, ihnen zu antworten; sie erkundigten sich bei einem Nachbarn, und am Ende kletterten sie über dessen Balkon in Moémas Wohnung. So konnte Roetgen feststellen, dass sie gar nicht zu Hause war; ja, alles ließ darauf schließen, dass sie seit dem legendären Abend gar nicht hier gewesen war.
»Einerseits schläft sie ja manchmal tagelang woanders …«, meinte Thaïs.
»Wo denn?«
»Sie war schon im Hotel, um nicht gefunden zu werden, oder sie fährt nach Canoa … Keine Ahnung. Sicher ist nur, sie hat immer genug Geld dabei, das ist nicht das Problem …«
Beide hatten Gewissensbisse gegenüber Moéma. Umso strenger tadelten sie deren offenbare Sorglosigkeit:
»Die muss sich doch denken können, dass wir uns furchtbar Gedanken machen«, sagte Thaïs.
»Ja, das ist nicht in Ordnung. Sie hätte uns wenigstens einen Zettel hinlegen können.«
An die Stelle der Erstarrung des Vortages war eine Art allerdings ebenso ungesunder Euphorie getreten. Moéma fühlte sich wie neugeboren. Elektrisiert von der Entscheidung, aus Fortaleza weg und wieder zu ihrem Vater zu ziehen, häutete sie sich mit der Kraft einer Auferstandenen. Das traumatische Erlebnis flößte ihr immer noch Angstträume ein, wie jenen, wo sie in einem riesigen, nach Fett und Verwesung stinkenden Kessel Menschenknochen durchrührte. Als sie Nelson erklären wollte, was sie durchgemacht hatte, bemerkte Moéma zu ihrer Überraschung, dass sie unsicher wurde. Ihr waren nur disparate und von jeglicher Gewalt freie Bilder geblieben – der Reiher, ein Goldzahn, das Etikett einer Bierflasche –, wie bei einem Albtraum, der, so weiß man im Schlaf genau, tief im Gedächtnis eingegraben bleiben wird, und am Morgen danach kann man sich nicht mehr entsinnen.
Jetzt machte sie sich Vorwürfe, dass sie Aynoré hatte wiedersehen wollen und sich für so unverwundbar gehalten hatte, sich nachts in das riskante Labyrinth der Favelas zu begeben. Die erlittene Strafe stand freilich nicht im Verhältnis zu ihrem Fehler, war aber am Ende ebenso unausweichlich wie eine schlechte Note für einen versiebten Aufsatz. Allmählich wurde es ihr fast vorstellbar, irgendwann diesen dämmerigen Unterschlupf voller Zärtlichkeit zu verlassen, in dem sie bislang aus einem animalischen Instinkt heraus verkrochen blieb. Allerdings wich sie allen Fragen nach ihrer Adresse oder Identität konsequent aus, um diesen Augenblick doch noch hinauszuzögern. Es gab die Welt davor und die Welt danach; von der ersten wollte sie nichts mehr hören, war aber noch nicht bereit, sich der zweiten zu stellen.
Das
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