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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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schreien, aber ein eiserner Handschuh presste ihre Kiefer zusammen, dass es buchstäblich krachte.
    Etwas unerbittlich Präzises senkte sich auf sie herab.

Favela de Pirambú
    Die Kälte des Metalls, sein Gewicht, das eines geschwollenen Organs.
    Nelson hatte den vorigen Nachmittag auf der Barre verbracht, an der sumpfigen Mündung des Ceará, am Ufer einer Lagune, wo die Frauen von Pirambú die Wäsche wuschen, die man ihnen anvertraute. Bis zum halben Oberschenkel im Wasser stehend, schlugen die Wäscherinnen schwungvoll auf rote Stoffe ein. Ihre Hinterbacken, auf ihn zugereckt, zeichneten sich deutlich in den nassen Röcken ab. Ein Stück abseits spielten nackte Kinder mit einer leeren Konservendose Fußball. Nelson nahm weder den Schweinekadaver wahr, aufgebläht wie ein Ballon, ein paar Meter neben der Stelle, wo andere Frauen das Wasser zum Kochen schöpften, noch die Fliegen, noch die Verlorenheit dieses Sumpfes, in dem der Tod in all seinen Formen wuselte. Denn das hier war das Leben, so wie er es von jeher kannte, und er war traurig, es verlassen zu müssen, so jämmerlich es auch war. Auch die Erinnerung an Moéma betrübte ihn. Er war rettungslos verliebt in seine Prinzessin aus dem Lande Nirgendwo und träumte unablässig davon, sie wiederzusehen.
    Als er bei Sonnenuntergang nach Hause kam, hätte ein Wörtchen von Onkel Zé oder der Prinzessin genügt, und er hätte seinen Plan fallengelassen. Er fühlte sich so allein, dass er mit dem Stück Seife und der Metallstange redete, in der Hoffnung auf ein Zeichen, das dafür sorgte, dass die Waage sich ein für alle Mal neigte. Aus Langeweile und um die beiden Alternativen seines Dilemmas besser abwägen zu können, grub er die Plastiktüte aus.
    Dass seine Ersparnisse verschwunden waren, ließ ihn erstarren. Nicht einen Augeblick lang dachte er darüber nach, wer das gewesen sein könnte; er hatte ein Zeichen gesucht, hier war es. Jemand hatte es ihm gegeben und sein Schicksal an das Moreiras geschmiedet. Der Gedanke, die Summe erneut anzusparen, streifte ihn nicht einmal von ferne. Eine extreme Mattigkeit, die bis in die letzten Winkel seines Seins vordrang, machte ihm klar, dass ein Neubeginn viel zu hart wäre. Es war, als hätte ihm der Oberst höchstselbst den Rollstuhl und damit – nach seinem Vater – auch noch den letzten Lebenssinn genommen. Er würde zu dem Meeting gehen, seinen Vater rächen und fertig. Bis dahin den Abzug der ungeladenen Pistole testen, immer wieder die Kugeln polieren … Seine ganze Nacht war der Waffe gewidmet, den tausend und einen Todesarten, die er dem Gouverneur bereiten wollte.
     
    Am nächsten Morgen brach er Richtung Strand auf. Er platzierte sich am Straßenrand und fand einen Laster, der ihn ein Drittel des Weges zum Strand der Zukunft mitnahm. Dort traf er Lauro, der auf einer Düne sitzend auf Dadá Cotinha wartete. Zum Glück war sonst noch niemand hier. Allein die Vorstellung, er könnte Onkel Zé oder Moéma treffen, ließ ihm den Schweiß ausbrechen. Er hatte Angst, vor dem Blick des Alten weich zu werden, Angst, in Moémas Augen das Geständnis zu lesen, das er fürchtete. Er antwortete auf Lauros Fragen nur ausweichend und fand eine weitere Mitfahrgelegenheit, diesmal bis zum Ziel.
    Als er bei den Schildern anlangte, die das Meeting des Gouverneurs ankündigten, befand er sich noch einen Kilometer von der Tribüne entfernt. Während er von der Düne zu ihr hinabrobbte, ließ er sie nicht aus den Augen, um jeden Umweg zu vermeiden. Dann verstellten ihm die Menge und der Urwald aus Beinen den Blick. Langsam bahnte er sich einen Weg, unablässig um Durchlass bittend, voller Angst, zertrampelt zu werden. Ein, zwei Leute traten beiseite, dann musste er weiterfragen. Bloß nicht der Versuchung nachgeben, sich durch eine Berührung der Wade bemerkbar zu machen, das löste reflexartig einen erschrockenen Fußtritt nach hinten aus. Nelson ließ sich von den lärmend laut eingestellten Lautsprechern leiten, aus denen in Erwartung der Politiker Sambamusik schallte. Er trug »à la Platini« ein besonders weites T-Shirt, so dass niemand auf die Idee kam, er könne eine Waffe darunter versteckt haben. Bei jeder seiner kriechenden Bewegungen biss die Pistole im Bund seiner Shorts ihm ins Fleisch. Die Kälte des Metalls, sein Gewicht, das eines geschwollenen Organs, betäubten den Schmerz, überhaupt am Leben zu sein.
    Jetzt begann die Menge um ihn herum zu tanzen, was ihn in besondere Gefahr brachte. Niemals hatte

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