Wo Tiger zu Hause sind
Leute davon abhältst, auf die Bühne zu kommen. Ja?«
Ohne jede Antwort legte Walmir das zweite T-Shirt vor Nelson auf den Boden und strubbelte ihm das Haar:
»Tschüss, Kleiner, man sieht sich …«
Schulterzuckend blickte ihm der Wahlkampfhelfer hinterher, wie er die Treppe hinunterging und sich in der Menge verlor.
»Los jetzt, los!«, herrschte er seine Männer an. »Und wenn einer von diesen Scheißern auf die Bühne kommt, könnt ihr euren Kröten Lebwohl sagen, das versprech ich euch!«
32 . Kapitel
In welchem berichtet wird, was aus dem Neger Chus ward.
A ls am nächsten Morgen, so berichtete uns Ulrich Calixtus späterhin, die Wachen die Zelle des Negers Chus betraten, fanden sie ihn an den Gitterstäben seines Fensters erhängt … Aus einer Wunde am Arm, mit der Schnalle seines Gürtels selbst zugefügt, hatte der Unglückliche genügend Blut gewonnen, um in seiner rätselhaften Sprache eine letzte Nachricht an die Zellenwand zu schmieren.
Als er dies erfuhr, geriet Kircher außer sich:
»Dank Eurer unglaublichen Nachlässigkeit, Herr Calixtus, stirbt hier nicht nur ein Mensch, sondern auch eine Sprache. Ach, was sage ich,
die Sprache
schlechthin! Es gebe der Himmel zu Eurem und der ganzen Welt Heil, dass irgendwo noch ein Wilder dieser Art lebt! Andernfalls wäre uns auf ewig die Möglichkeit genommen, zu den Ursprüngen vorzudringen, & das wäre das gewisse Zeichen für unser aller Verdammnis …«
Calixte brachte nicht einmal etwas zu seiner Entschuldigung vor, sondern beschränkte sich darauf, Kircher kleinlaut das Papier auszuhändigen, auf dem er die beiden vom Neger Chus geschriebenen Zeilen kopiert hatte.
»Tyerno Aliou de Fougoumba. Gorko mo waru don …«
[36] , las Kircher fasziniert, gleich wieder von seiner Leidenschaft für das Entziffern gepackt. »Kurios, höchst kurios …«
Er konzentrierte sich ausführlich auf diesen Text, während der Professor mich mit Blicken anflehte, zu seinen Gunsten zu intervenieren. Gern wäre ich dem gefolgt, betrübte doch auch mich die traurige Lage, in die ihn seine Unachtsamkeit gebracht, doch war dies nicht vonnöten, denn alsbald strahlte Kirchers Gesicht beruhigend auf.
»Nun gut, mein Lieber, nun gut, fasst Euch … Diese Zeilen teilen mir mit, dass Ihr durchaus nicht zu tadeln seid & eine göttliche Entscheidung der alleinige Grund für das ist, was erst als betrübliches Unglück erschien. Die Zeit war noch nicht reif; so hat es derjenige beschlossen, der so mitleidsvoll unsere Geschicke lenkt. Diese Worte, die Er in seiner grenzenlosen Güte in unsere Hände hat legen wollen, diese Worte, so sollt Ihr wissen, sprechen von Hoffnung & mahnen uns zur Geduld. Gedulden wir uns also. Und seid ohne Furcht: Der Tag der Versöhnung ist gar nicht so fern. Was verschieden & zerstreut ist, wird in Bälde seine ursprüngliche Einheit wiederfinden. So hat es Gott beschlossen. Und wir sind, ganz wie der Neger Chus, in seinen Händen nichts als machtlose Werkzeuge seines erhabenen Willens.«
Auf diese ermutigenden Worte beendigten wir jene überraschende Episode, ohne dass mein Meister seine Sicherheit verloren hätte, die »adamische Sprache« zu rekonstruieren, die er bislang erst erahnt hatte.
Das Jahr 1676 sah die Erscheinung der
Sphinx Mystagoga
, Kirchers letztem Werk, das sich Ägypten & den Hieroglyphen widmete. Er gab hier erstmals ein getreues Bild der Pyramiden & unterirdischen Friedhöfe, die man in der Gegend von Memphis besichtigen kann.
Von der rapiden Verschlechterung seines Gehörsinns gehindert, gequält von Schlaflosigkeit & immer häufigerem Kopfweh, stellte Athanasius Kircher nicht ohne Missbehagen fest, dass seine Kräfte nachließen. Seine Hand zitterte jetzt derart, dass er nur noch unter größten Schwierigkeiten zu schreiben vermochte & auch dann nur unförmige, unvollständige Buchstaben, & indem er die frühere so vollkommene Form seiner Manuskripte durch schiefe Linien, Streichungen & sogar Tintenflecke ruinierte. Doch begegnete er all diesen Widrigkeiten mit demütiger Geduld & pries unseren Herrn, dass er ihm so viel Zeit gegeben hatte, in aller Muße sein Werk zu vollenden.
Als der Sommer nahte, begaben wir uns wie alljährlich nach Mentorella. Kircher erhoffte sich durch diesen Aufenthalt viel für seine Gesundheit, doch die enorme Hitze, die auf dem Lande lastete, verschlimmerte seine Leiden. Nicht nur von der Migräne geplagt, sondern auch von einem mehrere Monate währenden Gichtanfall, musste
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