Wo Tiger zu Hause sind
mein Meister auf jene Spaziergänge über Land verzichten, die sonst seine Kräfte wie auch seinen Geist so hatten erfrischen können. Mit glühender Stirn & grässlich geschwollenen Beinen verbrachte er seine Nächte im Gebet, bis die Erschöpfung & das Opium, das er in immer höherer Dosierung einnahm, ihm endlich einige Stunden Erholung bescherten. Und jedes Mal, wenn ein Nachlassen seiner Erkrankung ihm die dazu nötige Muße bescherte, widmete er seine Zeit Pilgern oder Besuchern, die er täglich freundlicher & leutseliger empfing, als wollte er seine sich verschlechternde körperliche Verfassung verhöhnen.
Im Herbst 1677 , eben wieder in Rom zurück, teilte mir mein Meister eine Erfindung mit, über die er in den Stunden der Schlaflosigkeit nachgesonnen hatte. Entschlossen, gegen seine körperliche Schwäche anzugehen, hatte er einen Sessel erdacht, der die Gliedmaßen ohne Mithilfe der Muskeln zu bewegen vermochte. Diese auf Schraubenfedern montierte Apparatur, »Schüttelmaschine« genannt, sollte dazu dienen, die von der Krankheit verhärteten Bänder & Sehnen wieder geschmeidig zu machen; betrieben mit einer Art Uhrwerk, hob sie Arme & Beine abwechselnd im Rhythmus eines Gewaltmarschs. Ich begab mich unverzüglich ans Werk, und als die Maschine einige Wochen darauf fertiggestellt war, konnte Kircher sich endlich wieder Bewegung verschaffen, ohne dazu sein Zimmer verlassen zu müssen. Und es bot in der Tat einen kuriosen Anblick, wie er so im Sitzen strampelte, wenn auch ernsten Gesichts, während ein Novize ihm aus dem Augustinus vorlas … Allerdings tat diese Gymnastik seinem Kopfe äußerst wohl, & gegen Weihnachten ging er wieder ganz und gar normal.
Nun war Kircher allzu feinsinnig, um zu vergessen, dass die Gesundheit des Leibes, so wichtig sie auch sein mochte, nichts war im Hinblick auf die Verfassung der Seele. Treu den Vorschriften des heiligen Ignatius und unseres Ordens, begann er glühenden Herzens – und er meinte, es sei dies das letzte Mal – mit den
Geistlichen Übungen
. Als Generalerkundung & um seine Seele besser darauf vorzubereiten, vor ihren Schöpfer zu treten, erachtete er es als nötig, sämtliche Einzelheiten seines Lebens zu erkunden, indem er seiner Seele abverlangte, ihm über jede Stunde & jeden Lebensabschnitt seit dem Tag seiner Geburt Rechenschaft abzulegen, über seine Gedanken, dann über seine Worte sowie über seine Handlungen. Um dieses heilige Unterfangen zu befördern, begann er, trotz der großen Schwierigkeiten, die ihm das Schreiben mittlerweile bereitete, höchstselbst die Geschichte seines Lebens mit der Feder niederzulegen. Einmal mehr bewunderte ich die erhabene Kraft seines Willens.
Am ersten Tage des Jahres 1678 legte er den Bußgürtel an & begann ein strenges Fasten, sodann ließ er sich als Zeichen der Bußfertigkeit Haupthaar & Bart wachsen. Obgleich ich ihn vor den Gefahren solcher mit seinem hohen Alter unvereinbaren Härten warnte, hielt er unverbrüchlich an dieser Lebensführung fest, wechselte zwischen Kasteiungen und Sitzungen auf der Schüttelmaschine, verharrte demütig Nacht für Nacht in Kälte & Gebet & empfing dennoch die ganze Zeit Besucher & Freunde mit einer Selbstverleugnung & Herzlichkeit, die noch den Verstocktesten Tränen der Rührung entlockten.
Im Monat November des Jahres 1678 beendete mein Meister seine Memoiren. Er wünschte, dass sie erst nach seinem Tode veröffentlicht würden, doch als ein mich zutiefst berührendes Zeichen seiner Zuneigung gestattete er mir, sie als Erster zu studieren. Diejenigen Leser, welche Gelegenheit hatten, diese herrlichen Seiten zu lesen, ahnen ohne weiteres meine Bewunderung. Kirchers Stil zeigt sich hier in all seinem Adel & ehrt, was wir bei den Alten am höchsten schätzen, die Klarheit des Tons nämlich & das Maß. Doch mehr noch als ihre literarische Vollkommenheit bringen diese Zeilen dem Leser Entzücken & bilden ihren ganzen Wert dank der Ernsthaftigkeit einer wahrhaftigen & inspirierten Beichte. Kircher öffnet sein Herz Gott, er sagt, was er gesehen und getan, doch sagt er es mit Schlichtheit, voll Glaubensglut & Überschwang. So stark ist seine Liebe zur Wahrheit, dass er sich weigert, sie zu schönen, aus Angst, sie zu entstellen. Gefallsucht war bekanntlich nie einer seiner Fehler. Mein Meister erkundet sein Leben mit Hellsicht, ohne falsche Scham noch Verstellung. Zwar tritt hier und da ein berechtigter Stolz zutage – darob, derjenige zu sein, den Gott
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