Wo Tiger zu Hause sind
Trance, so unvermittelt wie eine kleine Explosion, ein heiliger Georg im mit Sternen und Pailletten bestickten roten Umhang bemühte sich, etwas in der Ferne zu erspähen, die Hand über den Augen wie ein hochgeklapptes Visier. Ein dürres Mädchen fuchtelte mit großen bunten Maracas herum, Kinder badeten, in den Brechern spielend. Körper wiegten sich wollüstig im Sambarhythmus, Neger strauchelten …
Aus dieser Menschenflut stieg ein unbezähmbarer Geruch nach Wildheit und billigem Kölnischwasser herauf.
Plötzlich fürchtete Moéma, sie könnte inmitten der Menge ihre Misshandler erkennen. Als sie am Vorabend in die Favela zurückgekehrt war, hatte dieser Gedanke sie nicht einmal gestreift, so sehr war sie vom Entzug benebelt. Jetzt aber flößte es ihr Angst ein. Was tun, falls das passieren sollte? Sie an Onkel Zé verraten, riskieren, dass sie dann wahrscheinlich gelyncht wurden? Das würde nichts ändern, so viel war sonnenklar. Doch war und blieb da ein gebieterischer Wunsch nach Rache; wie mit einem selbständigen Willen verlangte eine unbekannte innere Instanz nach Gerechtigkeit, und dieser Widerspruch verwirrte sie.
Mittlerweile war die Hitze kaum mehr zu ertragen. Unter ihrer Perücke troff der Schweiß hervor. Da sie Onkel Zé nicht mehr sehen konnte, winkte sie einem Mann, mit dem er vor ein paar Minuten noch gesprochen hatte:
»Hast du Zé gesehen?«
»Er ist gerade los …«
»Wohin denn?«
»Weiß ich nicht genau. Vielleicht zum Meeting des Gouverneurs am anderen Ende des Strandes … Ich hab ihm gesagt, dass ich heute früh Nelson gesehen hab, der war per Anhalter dahin unterwegs. Senhor Zé hat gesagt, er geht mal nachschauen und bringt den Jungen dann mit.«
Obwohl Moéma sämtliche Faktoren der Situation kannte, kam sie nicht darauf, was Onkel Zé bewogen hatte, so hastig aufzubrechen, sondern freute sich nur einfach, ihren Schutzengel bald wiederzusehen.
Eine wie aus dem Nichts aufgetauchte Flottille von Jangadas schoss parallel zum Ufer einher. In regelmäßigen Abständen scherte eine von ihnen aus dem Verband aus und ließ sich meisterhaft von den Wellen ans Ufer tragen. Der große Augenblick des Festes war gekommen. Sambamusiker und
Violeiros
vervielfachten ihre Anstrengungen, im Tumult öffneten sich Gänge, durch die Töchter der Heiligen schritten, die in einem Zug die Körbe mit den Opfergaben zu den Seglern trugen. Dadá Cotinha gelang es, sich aus einem monströsen Gewühle zu befreien und auf das von ihr gewählte Boot zu klettern: Wie alle spirituellen Anführer des Strandes musste sie den Korb ihres
Terreiros
bis zum Ziel begleiten. Ohne dass man ein Signal zum Aufbruch wahrgenommen hätte, setzten sich sämtliche Jangadas synchron in Bewegung, von einer taumelnden Menge in die Wellen begleitet, und rasten aufs offene Meer zu, zur Begegnung mit Yemanjá. Fern dort auf hoher See würden die bescheidenen Gaben der Gläubigen dem Meer überantwortet, und sollte bis zum Morgen keine von ihnen am Strand angetrieben werden, so wäre das ein Zeichen dafür, dass die Prinzessin des Meeres sie angenommen hätte und alle Wünsche erfüllt würden.
Moéma holte die Spritze heraus, die sie morgens vorsorglich fertiggemacht hatte: eine ordentliche Dosis Koks, eine letzte, dafür aber großzügig bemessene, zur Feier ihres Verzichts. Der Augenblick war ideal gewählt, die Menge blickte von ihr weg, den Jangadas hinterher. Der Strand sah aus wie die Ufer des Ganges an einem hohen Festtag; weder das Meer noch die Menschen waren je vergleichbar in heiliger Kraft erstrahlt. Ja, sich mit der Welt in Übereinstimmung befinden, dachte sie, als sie sich die Spritze setzte. Gib, dass es gelingt, Yemanjá!, dass ich den Geschmack an den Dingen wiederfinde, dass ich wiedergeboren werde zum Genuss daran, am Leben zu sein …
Das plötzliche Gefühl, nackt in einen Wildbach getaucht zu sein, alle Adern gefrieren zu spüren – sie konnte es gerade noch wahrnehmen. Die Bilder begannen zu flattern wie in einem alten Film mit verblichenen Farben. Ein Mann trank lachend Meerwasser. In den Wellen wogten die Hochzeitskleider, am Rand schimmerte es orange. Dann brach der Film jäh ab, und sie sah nur noch eine Art weißen Himmel, dicht bevölkert mit Schwalben, immer schneller und schneller vom Ansatz einer neuen Filmrolle abgespult. Nichts lief in ihrem Kopf ab, keine Vision noch Erinnerung, nur das Gefühl, es verpatzt zu haben. Sekundenkurz war ihr klar, dass sie Hilfe brauchte, sie wollte
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