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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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in den Sprüchen vorn an den Lastern. Die Straße entlang defilierten diese Wortspiele und Maximen wie die Seiten eines ungreifbaren Buchs: Vier volle Reifen, ein leeres Herz … Freund der Nacht, Gefährte der Sterne … Traurigkeit ist der Rost der Seele … Von Amazonien bis in den Piauí halt ich nur an, wenn ich mal muss Pipi … Ich habe den Busen der Melancholie gesehen im Dekolleté der Entfernung … Willst du Vitamine haben, musst du dich an Küssen laben … Millionär, dein Gott ist auch meiner … Adam hatte Glück, keine Schwiegermutter, keine Zahnbürste … Die Armen kommen nur voran, wenn die Polizei ihnen nachrennt … Ich parke in der Garage der Einsamkeit … Wenn meine Mutter euch fragt, sagt ihr, ich bin glücklich … Ist dein Vater arm, dann liegt es an der Not, ist dein Schwiegervater arm, dann bist du ein Idiot … Wenn die Welt vollkommen wäre, würde ihr Schöpfer in ihr leben … Mein Augenstern … Das gute Leben ist immer das der anderen … Mit Hetzen Geld verdienen? Nee, nee, so was macht doch nur Pelé! …
    Heute ist der erste Tag meines Lebens!
, stand auf dem Schild, neben dem sie endlich anhielten. Moéma sah das als eines der vielen Zeichen, der an sie gerichteten Zeichen, die ihr wieder Selbstsicherheit vermittelten.
     
    Tausende traten am Strand der Zukunft auf der Stelle, die Gläubigen der
Terreiros
, folklorefreudige Bürger der Stadt, Touristen und Jugendliche, die nichts anderes zu tun hatten. Der Strand verschwand schier unter dem vibrierenden Durcheinander der Menge; er war in unzählige Parzellen aufgeteilt, mit provisorischen Umfriedungen, in denen Altäre aufgebaut wurden. Von der Straße aus gesehen, auf der Onkel Zés Wagen hielt, hätte man das Treiben für eine gigantische, zwischen Dünen und Wasser eingekeilte Demonstration halten können. Unter der Sonne, die minütlich neue Kräfte zu entwickeln schien, bildete diese brodelnde, schnatternde Masse einen Kontrast zum Blassgrün des Ozeans. Unaufhörlich strömten neue Kohorten diesem lärmenden Magma hinzu. Wie Karavellensegel blähten sich Fahnen an ihren Masten im Wind; behelfsmäßige Unterstände, aus Tuch gespannt, flappten heftig und schienen jeden Moment wegfliegen zu wollen. Wie lackiert leuchteten die Nationalfarben Brasiliens groß an Masten vorm strahlenden Himmel, knallig wie Kaffee-Reklame.
    Die Neuankömmlinge bahnten sich einen Weg zu der Parzelle, die Dadá Cotinha zwei Tage zuvor ausgesucht hatte. Inmitten von Blumen und Girlanden tragenden Frauen, von kleinen Mädchen in ihren makellosen Kleidchen – unaufhörlich rückten sie die weißen Doppelkrönchen auf ihren Köpfen zurecht – und auch von Männern, schwer beladen mit Spankörben und Bündeln, stolzierte Moéma-Yemanjá hocherhobenen Kopfes einher.
    Wie auf einem Kristall mit Facettenschliff vervielfachte sich die göttliche Nixe: Mehr oder weniger gelungen verkleidete Mädchen, Riesinnen aus Pappmaché oder bescheidene Votiv-Statuetten, jedes dieser Götzenbilder hatte um sich eine eigene Schar von Gläubigen versammelt wie einen Kometenschweif. Jede Menge rhythmische Musik, Segenssprüche und Gelächter, all das prallte aufeinander, ohne je dissonant zu wirken. Wie den
Cordels
entstiegen, entfalteten die Armeen Karls des Großen ihren Prunk. Überall auf dem Strand verschlissene Helmbüsche und Theatersäbel; sie gehörten den Darstellern des Roland, wie Onkel Zé einer war, des Olivier, des Guy de Bourgogne, doch auch der Sarazenen, zuvorderst Fierabras, oder sogar des
Galalão
, des Ganelon aus dem mittelalterlichen Rolandslied, dessen Rolle als Sündenbock kein bisschen zu stören schien. Sie taten so, als würden sie die Zuschauer angreifen, und gaben so den tapferen Recken Gelegenheit, die Opfer zu verteidigen, was zu heftigen Kämpfen Mann gegen Mann führte, zu Handgemengen wie von Stabpuppen, bei denen diese abgerissenen Paladine einander zum Spiel meuchelten und lachend zu Boden gingen. Ein paar gelbhaarigen, rothäutigen Touristen war das dann doch ein bisschen unheimlich; sie grinsten dämlich, drückten eine Hand auf den Geldgürtel an ihrer Leibesmitte, mit der anderen hielten sie den Tragegurt ihrer Kamera fest.
    Als der Trupp von Dadá Cotinha bei der kleinen Gruppe angelangt war, die die ganze Nacht auf sie gewartet hatte – vertrauenswürdigen Männern, beauftragt, die Kerzen nicht ausgehen zu lassen, die für Yemanjá entzündet waren –, bauten sie rasch ihre Jahrmarktsbude auf. Moéma

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