Wo Tiger zu Hause sind
Nelson sich allein so einem Getümmel aussetzen müssen. Er geriet in Panik. Die Musik schien von allen Seiten zugleich zu kommen, Beine stießen ihn an, er atmete Sand ein. Eine rückwärts tretende Frau stolperte über ihn und stürzte über seine Brust, wobei sie ihm beinahe die Rippen brach …
»Wo willst du denn hin?«, fragte ein ihm unbekannter großspurig wirkender Mann, ein hochgewachsener, muskulöser Schwarzer, mit Bizepsen, so groß wie sein Kopf.
»Zum Meeting«, brachte Nelson atemlos heraus. »Ich will zum Meeting …«
»Na komm. Ich bring dich hin zu diesem Meeting …«
Der Schwarze hob Nelson ebenso leicht auf wie ein Hemd aus der Waschmaschine:
»Was willst du denn da? Hast du noch nicht begriffen, dass die Politiker allesamt Lügner sind? Willst du diese Arschlöcher trotzdem wählen?«
»Nein«, wehrte sich Nelson. »Ich will nur ein T-Shirt … Und sie haben gesagt, dass es was zu essen gibt …«
»Ich helfe dir!« Der Mann schüttelte angewidert den Kopf. »Du sollst dein T-Shirt bekommen, so wahr ich Walmir da Silva heiße!«
Mit Ellbogen- und Schultereinsatz gelangte Walmir rasch bis zum Fuß der großen Bühne, auf der man eines jener Zelte aufgebaut hatte, die die Neureichen für ihre Open-Air-Hochzeiten mieteten. Am rechten und linken Rand der Aufbauten standen Verstärkeranlagen und wummerten im Hämmern der Musik. Ein Stativ mit einem Mikro war auch da, dazu Blumen und Fahnen, auf denen der Name des Gouverneurs prangte. Im Zelt machte sich ein Trupp Wahlkampfhelfer an einem Berg Kartons zu schaffen, sämtlich weißgekleidet, mit einem T-Shirt, auf dem der Name Edson Barbosa junior aufgedruckt war. Vorn wachten vier schrankförmige Gorillas über die Treppe, die Zugang zur Bühne bot. Sie wirkten bereits unruhig, überfordert von der Masse der Armen, die gekommen waren, um zu fordern, was man ihnen versprochen hatte.
Dank seiner Größe drängelte Walmir sich problemlos bis zur Bühne vor, erklomm elastisch die wenigen Stufen und war oben. Er setzte Nelson hinter sich ab und bot den herbeigestürzten Wachmännern die Stirn.
»Zutritt verboten! Los, mach dich hier weg! Wir sagen Bescheid, wenn es so weit ist …«
»Der Kleine will ein T-Shirt und seinen Anteil am Futter«, sagte Walmir ruhig. »Wenn er unten bleibt, wird er zertrampelt.«
Er überragte die anderen um gut zwanzig Zentimeter; seine Hand ruhte nachlässig auf dem Griff eines großen Küchenmessers, das in seinem Gürtel steckte.
»Sag dem Chef Bescheid«, meinte einer der Männer, dem klar war, dass sie eine Auseinandersetzung mit ihm nicht heil überstehen würden. »Bleib vernünftig,
compadre
… Geh jetzt von der Bühne, sonst nimmt das noch ein böses Ende …«
»Lass doch«, meinte auch Nelson, »ich wollte nur schauen können … Ich kann gut unten warten, kein Problem …«
»Jetzt tu schon, was wir sagen!« Ein anderer Wachmann trat bedrohlich auf Walmir zu.
Der beschränkte sich auf einen schaurigen Schrei, ein Löwengebrüll, das den anderen erstarren ließ.
»Ruhe bitte, bitte Ruhe! Was ist denn los?«, fragte die halbe Portion, die jetzt herannahte, ein schwitzender Glatzkopf im Dreiteiler, der schon so erledigt aussah wie ein Pizzabäcker zur Polizeistunde.
In dem kurzen Augenblick, den Walmir brauchte, um seine Wünsche zu wiederholen, überblickte der Chef schon die Situation, das Messer, die ängstlichen Mienen seiner Männer, und begriff, dass der Krüppel dem Image seines Vorgesetzten nützen konnte.
»Das ist doch alles kein Problem«, meinte er freundlich mit so einem Lächeln, das man dank seiner Erfahrung beinahe glauben wollte. »Tonho, hol mal schnell zwei T-Shirts … Wie heißt du, junger Mann?«
»Nelson …«
»Gut, dann hör mal zu, Nelson: An die Essenskörbe kann ich im Moment noch nicht ran. Wenn nur du einen kriegst und sonst keiner, gibt das hier einen Aufstand, das verstehst du doch, was? Aber ich verspreche dir, du kriegst einen. Ich tue ihn per-sön-lich auf die Seite. Nein, besser noch …« – sein Gesicht leuchtete auf, was für eine glänzende Idee! – »der Gouverneur gibt ihn dir. Stell dir das mal vor! Der Gouverneur selbst!«
Und als Tonho kam:
»Hier, da ist dein T-Shirt. Zieh es gleich über und warte da am Rand. Wenn du versprichst, Ruhe zu halten, stört dich niemand mehr, und du hast einen Ehrenplatz …«
Das zweite T-Shirt gab er Walmir: »Und du da, du kriegst zweihundert Cruzeiros bar Kralle, wenn du hierbleibst und die
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