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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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musste ganz oben auf einem hölzernen Hochsitz Platz nehmen, wo sie die Menge überragte. Die Stufen wurden mit Blüten und Stoff geschmückt, ganz unten stellte man einen großen leeren Korb hin.
    Yeyé Omoeja
    oh Mutter-deren-Söhne-Fische-sind!
    Yemanjá!
    Janaína, Yemanjá!
    Ein neuer Mittelpunkt der Welt war erblüht, ähnlich wie allenthalben auf dem Strand und doch anders, einzigartig, mit keinem der anderen vergleichbar.
    Mit Blick zum Meer, das dreißig Meter vor ihr brandete, atmete Moéma in tiefen Zügen die Gischt ein, die der Wind herantrug. Ihre Brüste spannten in all der Erregung, der Stern, der ihr Perlendiadem überragte, funkelte. Unten deponierten die Verdammten dieser Erde einer nach dem anderen ihre Opfergaben in dem Korb. Stunden über richteten sie ihre tränenumflorten Blicke zu ihr empor, dem Abbild von Hoffnung und Mitleid. Ergriffen, ihrer Aufgabe bewusst, lauschte sie dem Flehen dieser Leute:
    »
Yemanjá Iemonô
, Älteste du, Reichste, Fernste draußen im Meer! Gib, dass meine Kinder immer genug zu essen haben! Ich schenke dir dieses Parfümpröbchen, dann duftest du gut …«
    »
Yemanjá Iamassê
, du Gewaltige mit blauen Augen, die du auf den Riffen wohnst! Gib, dass mein Mann Arbeit findet und aufhört, mich zu vertrimmen. Ich bringe dir Zwiebeln und Salz, leider habe ich nicht genug für eine Ente …«
    »Yemanjá Yewa
, du Scheue! Gib, dass Geralda meine Liebe erwidert. Hier, ein Kamm für dein langes Haar und ein Lippenstift …«
    »
Yemanjá Ollossá
, deren Blick unerträglich ist, die sich stets im Profil hält, da du dich von der Hässlichkeit der Welt abwenden willst! Gib, dass meine kleine Tochter ihr Augenlicht wieder erhält. Sie schenkt dir ihre einzige Puppe, damit du ihr zum Dank hilfst. Keine Sorge, ich mache ihr eine neue …«
    »
Yemanjá Assabá
, die du in der Brandung lebst, in johannisbeerrote Algen gekleidet! Gib, dass ich im Lotto gewinne und mit meiner Familie in den Sertão zurückkann. Ich bringe dir Seife und ein hübsches Armband …«
    »
Yemanjá Ogunté
, die du die Leidenden heilst, die du die Arzneien kennst! Heile meinen Mann von der Cachaça oder aber sorge dafür, dass er stirbt, ich kann so nicht weiterleben. Ich bringe dir dies Stück Stoff, daraus kanst du dir ein Kleid nähen oder was immer du willst …«
    »
Yemanjá Assessu
, die du im brodelnden Wasser lebst! Ich schenke dir diese Postkarte mit einer Ente darauf, ich weiß, dass du Enten liebst. Oh bitte, sorge dafür, dass es aufhört! Du weißt schon, was ich meine … Ich bringe dir auch mein heutiges Mittagessen und eine Muschelkette …«
    Andere formulierten ihre Wünsche auf kleinen, doppelt gefalteten Zetteln, ganze Arme voll Rosen und Bougainvilleen wurden in den Korb geworfen, bunte Bänder, Spitzen und Spiegel, alles was der Göttin-der-sieben-Wege gefallen und ihr Wohlwollen erringen mochte.
    Von Zeit zu Zeit kam Onkel Zé, um nach Moéma zu schauen und ihr eine Limonadenflasche mit Cachaça zu reichen. Er ging jedes Mal hochzufrieden von dannen; die junge Frau auf ihrem Thron strahlte und wirkte glücklich. Da Nelson immer noch nicht aufgekreuzt war, fragte er mit wachsender Sorge die Leute ringsum aus. Hinter seinem Rücken fischte Moéma immer wieder mit den Fingerspitzen etwas Pulver aus ihrer Umhängetasche und schnupfte es, indem sie so tat, als putzte sie sich die Nase. Jenen etwas bitteren Geschmack tief im Hals, betrachtete sie unersättlich die Menschenmenge, spürte, wie eine Art Nervosität daraus emporstieg, eine fleischliche, ansteckende Spannung. Dadá Dotinha segnete die Gläubigen, indem sie sie unter ihrer Achsel hindurchschlüpfen ließ; ein junger Mann – angetan mit einem gelben Satinhemd und einem Maharadscha-Turban, den eine riesenlange Straußenfeder überragte – tanzte mit zuckendem Hüftrollen auf der Stelle; mit ausgestreckten Armen, die Handflächen nach oben gedreht, kullerte er mit den Augen wie ein gefolterter Märtyrer. Dicke Frauen kreisten herrlich gleichgültig, Schmuckbänder um die Stirn, das lange Haar frei im Winde wehend. Hinreißende Strandwesen wackelten mit ihren glatten, brötchenknusprig braunen Hinterteilen in lächerlich kleinen Bikinis. Fischer mit ausgebleichten Locken besoffen sich majestätisch, alte Leute tapsten vorbei, ihren Esel oder ihr Fahrrad an der Hand führend, andere beteten im Stehen, die Hände rechts und links am Gesicht, wie von einer rätselhaften Migräne befallen. Hier und da geriet jemand in

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