Wo unsere Träume wohnen
bleiben wollte, als auch Violet, deren Mann sie und die Kinder im Stich gelassen hatte, zugutegekommen war.
Rudy konnte sich vorstellen, wie hintergangen sich Violet jetzt fühlen musste. Genau wie er, als Staceys Mutter ihn und das erst sechs Monate alte Baby sitzen gelassen hatte. Aber Rudy hatte wenigstens seine eigene große Familie als Sicherheitsnetz gehabt.
Jetzt hielt er vor dem dunklen Gasthof. Das einzige Licht stammte vom Mond und dem halben Dutzend schwacher Solarleuchten, die den rissigen Gehweg säumten. Bewaffnet mit einer Taschenlampe sprang Stacey aus dem Wagen und eilte ins Haus – zur Toilette, vermutete Rudy. Kevin blieb sitzen und musterte ihn erstaunt, denn der Motor lief noch immer.
„Ich mache ein Feuer an, ja?“, sagte er nach einem Moment und stieg aus.
Rudy wendete den Wagen, fuhr wieder in den Winterabend hinaus und hoffte, dass er ein oder zwei Feuer aus machen konnte.
Stacey rieb sich den Po, der noch von der eiskalten Klobrille kribbelte, und schlich zurück in das noch kältere, stockdunkle Wohnzimmer, wo ihr Onkel vor dem Holzofen kniete, der in den Kamin gestellt worden war. Im Schein seiner Taschenlampe versuchte er, ein Feuer zu entfachen. Stacey schauderte. Schon am Tag war es hier gruselig genug. Sicher, sie hatte gezeltet und alles, aber das hier war anders.
„Wo … ist … Dad?“, fragte sie mit klappernden Zähnen.
„Der hat noch was zu erledigen“, erwiderte Onkel Kev. „Er kommt bald wieder.“
Stacey verdrehte die Augen. Warum behandelten die beiden sie immer wie ein Kleinkind?
„Es ist so kalt hier.“ Sie rieb sich die Arme und suchte nach ihrer Jacke, die sie vorhin ausgezogen hatte. Wahrscheinlich würde sie irgendwann erfrieren, und ohne Strom und Telefon konnte sie nicht mal ihre E-Mails checken. Zu Weihnachten würde sie – als Entschädigung für ihr ruiniertes Leben – einen neuen Laptop bekommen, aber was nutzte das jetzt noch?
Blinzelnd wehrte sie sich gegen die Tränen. Ihr Dad und Onkel Kev sollten sie auf keinen Fall für eine Heulsuse halten!
„Gleich wird es warm“, versprach Kevin und bewunderte sein Werk durch die offene Ofenklappe hindurch. Nervös sah Stacey sich um. Im Schein des Feuers tanzten die Schatten. Konnte es noch unheimlicher werden? Sie setzte sich zu ihm auf den zusammengerollten Schlafsack.
„Ich weiß, du bist ziemlich unglücklich über diesen Umzug“, sagte er nach einer Weile.
„Stimmt.“ Stacy starrte in die züngelnden Flammen. „Ich musste alle Freunde zurücklassen, mitten im Jahr die Schule wechseln, das nächste Einkaufszentrum ist wahrscheinlich fünfhundert Meilen entfernt, und dieses Haus ist das Letzte.“
„Zufällig weiß ich, dass es keine zehn Meilen von hier ein Outlet-Center mit zweihundert Geschäften gibt.“
„Na und? Glaubst du wirklich, dass mein Dad mit mir zu einem Outlet-Center fährt?“
„Du wirst neue Freundinnen finden, Stacey. Mit Moms, die liebend gern mit euch ins Outlet-Center fahren. Und dein Dad und ich werden dieses Haus renovieren. Warte nur ab.“ Aufmunternd stieß Kev seine Nichte an. „Es wird toll. Meinst du, du könntest deinem Dad … eine Chance geben? Das hier bedeutet ihm nämlich sehr viel, weißt du.“
Stacey seufzte. Das Haus ihrer Großeltern in Springfield war gemütlich und warm, aber dort hatte sie nicht bleiben können, weil die beiden viel reisen wollten. Und Tanten und Onkel hatten genug mit ihren eigenen Kindern zu tun.
„Ich verstehe noch immer nicht, warum wir unbedingt umziehen mussten“, murmelte sie betrübt.
„Dein Dad war unglücklich.“
„Davon hat er mir nie etwas gesagt.“
„Du kennst deinen Dad. Er bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich es dir erzählt habe. Also kein Wort, okay?“
Stacey nickte. „Aber wir hätten uns doch in Springfield eine andere Wohnung suchen können.“
„Manchmal muss man eben einen Neuanfang wagen, um wieder glücklich zu werden. Verstehst du das?“
Eigentlich nicht. Aber es freute sie, dass Onkel Kev sie ernst nahm. Sie setzte sich auf und sah ihn an. „Bist du deshalb mitgekommen?“
„Auch deshalb. Glaub mir, genauer willst du es nicht wissen. Ich war ziemlich kaputt. Aber dein Dad … der war immer wie ein Fels in der Brandung. Verlässlich. Selbstlos. Du bist für ihn das Wichtigste auf der Welt.“
Er stand auf, um im Feuer zu stochern. Funken stoben auf, bevor er die Klappe schloss. Endlich wurde es warm, und Stacey öffnete ihre Jacke. Sie fragte sich, worauf ihr Onkel
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