Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
mich. Dagmar, die kühle Chefsekretärin der
Berliner Zeitung
, fragt, ob sie etwas für mich oder meine Familie tun kann. Studienfreunde aus Erfurt, Potsdam, Berlin und Magdeburg wollen wissen, wie es mir geht. Leute aus dem deutschen Filmgeschäft, die ich gar nicht richtig kenne, schreiben mir, wie besorgt sie sind. Roland, der am
Deutschen Theater
arbeitet, schreibt: »Gott segne Euch.« Frank, mit dem ich vor zwölf Jahren Nordkorea besucht habe, um über die Weltfestspiele der sozialistischen Jugend und Studenten zu berichten, schickt eine »Umarmung«, Matthias, mit dem ich vor einem Jahr bei den Olympischen Spielen in Sydney war, schreibt, dass ich auf mich aufpassen soll. Gunnar, mit dem ich sowohl nach Nordkorea als auch nach Sydney gereist bin, fragt aus Los Angeles, wo er heute als
dpa
-Korrespondent arbeitet, ob er helfen kann. Es ist ein unerhört warmer, freundschaftlicher Ton in all den Mails, die manchmal von Leuten kommen, die ich seit Jahren nicht gesehen habe. Und oft von Leuten, die sich normalerweise hinter derselben Ironie verstecken wie ich. OL, der Berliner Cartoonist, der die besten Kotzbilder in ganz Deutschland zeichnet, bittet mich um ein Lebenszeichen. Es gibt kein Schutzschild, keine Berechnung, keinen Spott, keinen Neid. Ich sehe auf das OL-Bild, das vor mir an der Wand hängt. Eine dicke Frau mit einem winzigen Hut, darunter steht:
Mutter
.
Ich habe es nach fünf Bier auf einer Ausstellungseröffnung in der Oderberger Straße gekauft. Ich klappe den Computer zu, trenne die Verbindung zur Welt, bevor wir wieder auseinanderfallen. Es wird dunkel vor meinem Fenster und einen Moment lang denke ich daran, noch schnell eine Runde um den Park zu laufen. Ich muss doch laufen, aber das geht nicht, glaube ich. Heute nicht.
Auf dem Schreibtisch steht ein gerahmtes Hochzeitsfoto – Anja mit wehenden Haaren, einem Strauß in der Hand, unser Sohn Ferdinand, drei Jahre alt, klammert sich in einem kleinen blauen Anzug an ihr fest. Sie lächelt, aber es ist ein brüchiges Lachen. Wir hatten die ganze Nacht vor unserer Hochzeit wachgelegen, weil wir nicht wussten, ob wir einen Fehler machen. Ich hatte bis zum Schluss in der Redaktion der
Berliner Zeitung
gesessen, um einen Text über die deutsche Fußballnationalmannschaft zu schreiben, die es gerade in das EM-Finale 1996 geschafft hatte. Dann ging ich noch zu der Abschiedsparty eines Stellvertretenden Chefredakteurs, der mir nicht wichtig war. Anja wollte nicht, dass ich dort hingehe, und ich bin am Ende nur da gewesen, um ihr zu zeigen, dass ich es selbst dann tue, wenn sie es nicht will. Dass ich es immer tun werde, dass ich mein Leben nicht aufgeben werde als verheirateter Mann. Ich bin nach Mitternacht nach Hause gekommen, es waren noch zehn Stunden bis zu unserer Hochzeit, und ich hatte noch nicht mal Schuhe, die zu meinem Anzug passten. Am nächsten Morgen waren die Zweifel weg. Die Sonne schien und wir hatten noch viele Dinge zu erledigen. Christian, mein Trauzeuge, stand vor der Tür, wir mussten noch zum Friseur, und ich musste mir noch Schuhe kaufen.
Ich war erstaunlich erleichtert, nachdem ich JA gesagt hatte.
Wir haben unsere Hochzeitsreise nach Amerika gemacht. Ich habe nur die Tickets nach Boston gebucht und den Mietwagen, der Rest sollte sich von allein ergeben. Neuengland, dachte ich: das Meer, die weißen Holzhäuser auf grünen, rollenden Bergen, Verandas, Schaukelstühle. Ich las damals viel John Irving. Ich wollte uns in diese Landschaft führen, in diese Geschichten. Es war im Sommer, Hochsaison. Die erste Nacht haben wir in einem Motel in der Nähe des Flughafens geschlafen, dann wurde es schwierig. Wir fanden ein halbfertiges Haus in Maine, wo wir eine Woche blieben, dann zogen wir wie Heimatvertriebene durch New Hampshire, Vermont, New York State, Massachusetts und Kanada. Als wir in Montreal waren, erfuhr ich in einer Telefonzelle, dass die kranke Sängerin Tamara Danz, die ich gerade mehrmals interviewt hatte, gestorben war. Ich sagte Anja, dass ich zur Beerdigung fahren müsse. Nur für den Tag, dann würde ich zurückkommen.
»Fahr doch«, sagte Anja, und ich war so erschrocken über die Antwort und den Blick, dass ich blieb.
Wir fuhren noch ein paar Tage ziellos durch den Nordosten Amerikas, immer auf der Suche nach den Bildern in meinem Kopf. Dann brachen wir die Reise ab und flogen anderthalb Wochen früher als geplant nach Hause. Es ist ein Wunder, dass mir meine Frau überhaupt hierher gefolgt ist. Ich bin nicht
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