Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
auf dem Hochzeitsbild, aber man sieht mich im Gesicht meiner Frau, in dem verlorenen Lächeln.
Ich öffne den Rucksack, nehme den Block heraus und lege ihn neben meinen Laptop. Es war Anjas Block, aber er ist mein Block geworden, denke ich, oder wenigstens unser Block. Ich hab ihr auch den Block weggenommen. Ich muss aufpassen, dass sie nicht irgendwann fühlt, ich stehle ihr Leben.
Vor ein paar Monaten hat Anja den Schauspieler Maximilian Schell für die
Berliner Zeitung
interviewt. Schell spielte in der Inszenierung von
Das Urteil von Nürnberg
am Broadway. Es war ein gutes Interview, aber am Ende hat Schell versucht, Anja in seiner Garderobe zu küssen. Sie kam ziemlich aufgelöst nach Hause, aber ich habe das alles nicht so ernst genommen. Wir gingen zur Premiere. Das Stück war ganz ordentlich, aber es lief schlecht, ganz im Gegensatz zu
The Producers
von Mel Brooks, das in diesen Tagen alle Broadway-Rekorde brach. Zwei Nazistücke, ein ernsthaftes, ein komisches, aber nur das komische war ein Erfolg in New York. Ich dachte, dass das vielleicht eine Geschichte wäre, und ließ mir von Anja Schells Telefonnummer geben. Sie wollte nicht, dass ich mich mit ihm treffe, aber am Ende habe ich sie überredet. Ich verstand mich sehr gut mit Schell. Wir sprachen nicht über den kleinen Übergriff in seiner Garderobe. Schell lud mich zu einer privaten Aufführung ein. Wir gingen ein paar Mal Essen, einmal trafen wir Marcia Gay Harden, die gerade einen Oscar gewonnen hatte. Er zeigte mir sein Apartment im Essex House, in dem er für die Zeit seines Engagements wohnte. Wir sahen von dort über den Central Park, tranken Tee, Schell erzählte mir von den Problemen in seiner Ehe und von der jungen Wienerin, die er gerade in einer Ausstellung in New York getroffen hatte. Er weihte mich in die Aktion ein, mit der er mehr Aufmerksamkeit für das Stück gewinnen wollte. Eines Nachts malte er mit weißer Farbe ein riesiges Hakenkreuz auf das Plakat am Theater. Die Zeitungen berichteten darüber, aber es half nichts mehr. Das Stück wurde abgesetzt. Ich schrieb meinen
Spiegel
-Text und half Maximilian Schell beim Ausräumen seiner Wohnung. Er schenkte mir zum Abschied eine silberne Zuckerdose aus dem Wohnzimmer. Am Ende hatte ich Anja nicht nur die Geschichte genommen, ich hatte auch den Kuss in der Garderobe sanktioniert. Ich hatte meine Frau für eine Broadway-Reportage verraten.
Ich muss wirklich aufpassen.
Ich gehe ins Bad, wasche mein Gesicht und spüre zum ersten Mal, dass meine Halsschlagader heftiger pulsiert als sonst. Ich sehe es nicht im Spiegel, aber es trommelt in meinem Hals und mein Kopf scheint zu schwellen. Ich lasse mir kaltes Wasser über die Handgelenke fließen, bis das Pochen ein bisschen nachlässt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie in einem der Gärten hinter unseren Häusern ein paar Leute zusammenstehen. Es ist der
Backyard
von Laura und Dan. Laura ist eine Kinderpsychologin und Dan ist irgendwas bei der Arbeiterpartei New Yorks. Ich kann die beiden nicht ausstehen, vor allem Laura nicht, die für eine Kinderpsychologin erstaunlich hysterisch auf alle Kinder reagiert, die sich nicht so verhalten wie ihre eigenen. Etwa ein Dutzend Leute stehen um einen Busch herum. Sie scheinen zu beten, aber man kann es nicht richtig erkennen, weil die Bäume davorstehen. Plötzlich verlässt eine Person die Runde und läuft schnell in meine Richtung. Es ist mein Nachbar Terry, er läuft kopfschüttelnd durch seinen Garten und verschwindet in seinem Haus.
Ich probiere im Spiegel einen Gesichtsausdruck für meinen Auftritt bei Liz, meine Miene für Anja.
H i, Anja«, ruft Liz und umarmt mich, kaum, dass ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Sie hat ein Glas in der Hand, es ist fast leer. Johns auch. Liz' Mutter trinkt Weißwein. Sie bereitet das Abendbrot vor, es riecht nach Kohl und Fleisch. »Corned Beef«, erklärt Gail, Liz' Mutter.
»Wir dachten, wir kochen heute mal was ganz Traditionelles«, sagt Liz. »Comfort Food« , ergänzt John.
Er sitzt am runden Küchentisch neben dem Kamin und starrt auf einen kleinen Fernseher, der oben im Wandschrank befestigt ist und auf dem zum hundertsten Mal an diesem Tag das zweite Flugzeug in den Südturm des World Trade Centers fliegt.
»Gin Tonic?«, fragt er mich. Ich nicke und laufe durchs Zimmer zu den Mädchen, die unterm Fenster mit Elises Puppen spielen.
Das Haus von Liz' Familie sieht von außen genau wie unseres aus, aber von innen ganz anders. Es
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