Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
hatte auseinanderreißen können … Und da wir schon von einem Schal sprachen, wäre zu bedenken, daß ein Schal nicht nur wärmte, sondern viele Bedeutungen, Gefühle in sich trug. Nun war auch eine Frage an der Reihe, die vielen Menschen viel wichtiger erscheinen mochte. Die Antwort darauf konnte indirekt viele andere Fragen beantworten.
»Wo fühlst du dich nach all den Jahren am ehesten zu Hause? …«
Wieder konnte ich in seinen Augen die irgendwie nicht erloschene, nicht aufgebrauchte Begeisterung lesen. Was ihn für mich besonders machte, war, daß er immer mit diesen Augen aufs Leben blickte. Zwar hatten die Jahre uns Unvermutetes, selbst von uns Unerwartetes, gezeigt, aber uns wohl doch manche Blicke bewahrt und die Fähigkeit, den Willen, uns gegenseitig in diesen Blicken zu erkennen. Die Antwort, die er auf meine Frage gab, bestätigte das noch.
»Ich habe immer noch eine türkische Seite, die ich niemals aufgeben werde. Die ich niemals aufgeben wollte. Vielmehr habe ich immer versucht, sie auszuleben. Wüßtest du, was ich gemacht habe, würdest du mir recht geben. Ich werde dir erzählen, alles, was ich gemacht habe, was und wie ich gelebt habe. Es war nämlich gar nicht so leicht, sich dort einzugewöhnen. Aber schließlich habe ich mich eingelebt, und zwar sehr gut. So sehr, daß ich woanders inzwischen nicht mehr leben könnte. In meinem Alter könnte ich mich in kein neues Abenteuer stürzen. Schau, ich sage ein neues Abenteuer, hast du das gemerkt? … Ich sehe es inzwischen als ein Abenteuer an, woanders zu leben. Ich habe dir ja auch geschrieben, daß ich bald meine Pension beantragen werde. Ich habe meine Verhältnisse geordnet. Eigentlich gerade zur rechten Zeit. Mit der Abfindung werde ich in eine bequemere und größere Wohnung umziehen, meine jetzige Wohnung verkaufen … Wie du dir vorstellen kannst, habe ich auch eine Menge Pläne, ist doch klar … Was sollte ich wohl von meinen verbleibenden Lebensjahren mehr verlangen …«
Niso hatte das Recht, sein Leben so zu interpretieren. Er hatte auch das Recht, seinen Kampf so zu führen. Sobald ich aus seinen Erzählungen erfahren hatte, wie er das Land, das er verlassen hatte, in sich lebendig erhalten hatte, räumte ich ihm dieses Recht noch mehr ein. Ich war entschlossen, ihm bis zuletzt zuzuhören. Es war inzwischen nicht besonders schwer, die notwendige Frage zu stellen.
»Wie sind wir bis dahin gekommen, Niso?«
Auch ich war in die Frage eingeschlossen und jeder, der in das ›Spiel‹ verstrickt war und die Frage stellen wollte. Anders konnte ich nicht vorgehen. Ich konnte ihn nur so zur Offenheit aufrufen. Indem ich mich bereit zeigte, mich ebenfalls zu entblößen, wenn Ort und Zeit gekommen waren. Meine Absicht war sowieso der Austausch. Mich auszutauschen, indem ich mich selbst öffnete, um zu verstehen und meine Existenz ein wenig fühlen zu können. Wir tranken unseren zweiten Tee. Dazu rauchten wir viel. Dies hatte sich als weitere Gemeinsamkeit zwischen uns herausgestellt. Als er seinen Tee ausgetrunken hatte, schaute er aufs Meer. Dieses Mal lag Trauer in seinem Blick. Mir konnte diese Tiefe seiner Blicke nicht entgehen. Ebenso wie mir in seiner Stimme der Stolz, den Kampf überstanden zu haben, das hinter seiner Bescheidenheit verborgene Selbstwertgefühl, das mich nicht störte, nicht entgingen … Sowohl seine Beharrlichkeit als auch seine Kampfansage hatten ihren Preis gehabt, genauso wie sein Bemühen, sich selbst zu akzeptieren und in Frieden mit sich zu sein. Wir waren an einem Punkt, wo Lob und Tadel sich gegenseitig belebten. Der Vorhang öffnete sich …
»Es war gar nicht einfach … Überhaupt nicht … Doch wenn du willst, fange ich ganz von vorne an. Was ich erlebt habe, als ich von hier Abschied nahm. Das ist mir seinerzeit sehr schwer gefallen. Doch nun … Ich erinnere mich jetzt manchmal lachend …«
Das war ein guter Anfang. Ja, wir hatten inzwischen viele bittere Erinnerungen, die wir jetzt lachend auffrischen konnten … Dieses Gefühl kannte ich sehr gut. Auch ich war bereit, mit ihm zusammen in jene Tage zurückzukehren. Für unser neues ›Hier‹ … Ich nickte. Um anzudeuten, ich sei bereit, sowohl für seine als auch für meine Erinnerungen. Auch ich wollte ja die Bühne betreten …
»In Istanbul erwartete mich keine Zukunft … Davon war ich damals fest überzeugt. Wer würde einem Elektroingenieur Arbeit geben … Und wenn, dann wäre das ein elendes Dahinvegetieren. Eine derartige Arbeit
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