Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Wahrheit hören mußte, als auch für einen Sohn, der sein Leben lang geglaubt hatte, seine Eltern hätten vorbildlich zusammengelebt … Die Äußerungen konnten aus einer alten Traumwelt stammen und sollten womöglich, obwohl nicht erlebt, wie erlebt erscheinen, so dargestellt werden. Selbst wenn das der Fall sein mochte, so wurde der Mensch in dieser Situation doch konfrontiert mit der Angst vor manchen Blößen, Fehlern. Wenn sich seine Grenzen zu verwischen anfangen, holt der Verstand manche Spiele wieder hervor, die er zu löschen versucht hat, um sich selbst zu schützen, und nun werden sie endgültig sichtbar.
Das Gespräch wurde immer intensiver. Wir konnten nun eine Bewegung hin zu den Tiefen unseres Lebens nicht mehr vermeiden. Wieder waren die langen Jahre der Trennung unwichtig geworden. Unsere Vergangenheit verlangte das so. Zudem saß mir ein Mensch gegenüber, dessen Zorn trotz all der Jahre nicht verraucht war und der sein Inneres noch immer hinausschleudern wollte, ohne lange darüber nachzudenken. Ich versuchte, meine Empfindungen durch ein Lächeln auszudrücken. Ich wollte, daß er verstand, wie ich ihn sah. Ich entschied mich, wieder einmal zuzuhören. Ich liebte diese meine Rolle in der Erzählung. Und ich liebte es, wenn einerseits alle so sehr das Bedürfnis zu erzählen hatten und andererseits die Helden in meinem ›Spiel‹ versuchten, sich selbst darzustellen durch das, was sie in der Gegenwart oder in der Vergangenheit getan und sogar nicht getan hatten … Bis zu einem gewissen Punkt strömte das natürlich so weiter. Doch dann fiel ihm mein Schweigen auf. Er fühlte sich zu einer Erklärung genötigt. Ich wußte nun nicht, inwieweit ich das, was ich sagen wollte, vermittelt hatte. Er sagte:
»Nein, Junge, nein, nun guck mich doch nicht so an, als hätte ich Schwatzdurchfall gekriegt. Ich habe mich so danach gesehnt, Türkisch zu reden, kapiert? … Dort reden wir schon mal, wenn ich mich mit ein paar Freunden aus der Heimat treffe. Aber hier kannst du jeden Augenblick Türkisch reden. Weißt du, was das bedeutet? … Woher solltest du das wissen … Außerdem habe ich mich nach einer Weile von vielen Bekannten entfernt. Nur so konnte ich mein Leben ändern. Habe ich mich verständlich ausgedrückt? …«
Hatte er sich verständlich ausgedrückt? … Hatte ich ihn wirklich verstanden? … Aus seiner Rede hatte ich den Schluß gezogen, daß er sich bemüht hatte, sich von hier möglichst zu lösen, zumindest in einer bestimmten Phase seines Lebens, in der Hoffnung, mehr auf das zu vertrauen, was er getan hatte und in Zukunft tun wollte. Irgendwo hatte er seine Spur verwischt, doch manche Spuren trug er in sich, es schien, als hätte er sie nicht löschen, nicht verlieren können. Wie hätte ich sonst diesen Gefühlsausbruch verstehen sollen? … Dabei steckte mich seine kindliche Begeisterung an, die ich immer geliebt hatte und die er sich, wie ich sah, bewahrt hatte. Um des besseren Verstehens willen versuchte ich einen nächsten Schritt.
»Wonach hast du dich sonst noch gesehnt? …«
Er lächelte. Die Falten in seinem Gesicht spielten überhaupt keine Rolle mehr. Denn mich blickten die Augen des Jungen von früher an. Indem sie ganz spontan das Unverlierbare zu seinem Recht kommen ließen.
»Die Fußballspiele von Fenerbahçe! …«
Wieder fand ich keine Antwort. Ich lächelte, weil ich mehr nicht tun konnte … Eigentlich war mir zum Weinen zumute. So nahe ging mir das. Als er sah, daß ich schwieg, redete er weiter. Ich hatte sowieso nicht erwartet, daß er hier aufhörte.
»Wie oft habe ich im Fernsehen in den Sportsendungen das Şükrü-Saraçoğlu-Stadion gesehen. Wie oft habe ich mir gesagt, Mensch, dort könntest du sein! … Schau, vor allem das hat mir gefehlt, verdammt noch mal! … Ich trinke meinen Raki, wenn ich mag. Wir haben Weißkäse und Honigmelonen, das genügt mir als meze , wenn ich Raki trinken will, ich kann mich nicht beschweren. Doch die Spiele von Fenerbahçe … Das geht einem schon sehr nahe …«
Seine Augen wurden feucht. Ich merkte, wie auch mir die Tränen kamen. In dieser Gefühlsaufwallung atmete eine so tiefe Geschichte, ein Herzschlag, den Außenstehende überhaupt nicht begreifen konnten. Wer weiß, wohin wir geraten wären, wenn wir angefangen hätten, uns an diese vergangenen Ereignisse zu erinnern, uns gegenseitig daran zu erinnern. Sogar das, was in meinem Geist in diesen Augenblicken schnell vorüberzog, reichte aus, mich an einen
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