Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Ganze mal beiseite. Wenn es Verjährung gibt, gibt es dann nicht auch für dieses Versprechen eine Gültigkeitsfrist, müßte es sie nicht geben? …«
In dem Augenblick las ich in seinen Blicken wieder Liebe, Freundschaft und eine Lebensfreude, die seiner Kindlichkeit entsprang, die sich trotz seiner Falten in seinem Gesicht gut erhalten hatte. Diese Begeisterung hatte eine andere Ausprägung gefunden durch eine mit den Jahren erworbene Weisheit, die man jedoch nur erkannte, wenn man sehr aufmerksam hinschaute. Ich konnte die Fortsetzung seiner Erzählung von so einem Ausgangspunkt her noch besser verstehen. Meine Gefühle machten mich wieder schweigsam. Mir war bewußt, daß auch er erzählen, sich erinnern wollte.
»Als ich zum Flughafen fuhr, hatte ich zwei Koffer dabei. Das war alles. Und natürlich meine Gitarre, die mir auf dem Rücken hing … In den einen Koffer hatte ich meine Kleidung und ein paar persönliche Dinge gepackt, der andere war voll mit Schallplatten und Büchern. Kannst du dir einen Koffer voller Platten und Bücher vorstellen? … Auf die konnte ich nicht verzichten. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst. Damals gab es bei der Sicherheitskontrolle keine Apparate. Es gab Beamte, die einen aufforderten, die Koffer zu öffnen, und die zugleich nachschauten, ob man etwas Wertvolles außer Landes schmuggelte. Es ging also nicht nur um die Sicherheit … Wir waren damals jung. Das reichte als Verdachtsgrund schon aus. Wenn die Koffer schwer waren und man außerdem eine Gitarre auf dem Rücken hatte, dann gab es kein Entkommen. Ich wurde angehalten. Ein Polizist ließ mich meine Koffer öffnen. Du kannst dir vorstellen, wie höflich er war. Zuerst durchwühlte er den Koffer mit meiner Kleidung. Er hatte nichts zu meckern. Als er dann meine Bücher sah, fragte er grinsend, ob ich die alle auf der Reise lesen wollte. Weil ich glaubte, er mache sich über mich lustig, war ich sauer und schaute ihm dreist ins Gesicht. Ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und sagte: ›Ich wandere aus!‹ Als er das hörte, schaute er mal mich, mal die Bücher an. Da fehlte nichts. Du kennst ja meine Bücher. Die damals verbotenen Bücher von Nâzım Hikmet kamen schnell ans Licht. Als er auch diese noch erblickte, sagt der Kerl, wieder mit diesem schmutzigen Grinsen: ›Gut, daß du abhaust! … Laß dich hier nie wieder blicken, du Gauner! …‹ In dem Moment hätte ich am liebsten Streit angefangen, ich beherrschte mich nur schwer. Ich sagte mir, einer wie ich sollte sich nicht noch in letzter Minute in Schwierigkeiten bringen, und schwieg. Ich war voller Wut und Haß, und doch schwieg ich. Ich lächelte bloß. Ich durfte nicht auf den gemeinen Kerl eingehen. Plötzlich dachte ich an Nâzım. Solange diese Menschen am Ruder waren, solange ihre Speichelleckerei andauerte, solange die Heimat in diesem Zustand blieb, würde ich mit dem ›Vaterlandsverrat‹ weitermachen. Dabei verfluchte ich noch einmal diejenigen, die uns diese Zeiten eingebrockt hatten … Mir kamen unsere Demonstrationszüge in den Sinn, wie wir die Versammlungsplätze gefüllt hatten, unsere Gefängnisse, unsere Schwüre, unser Zusammenhalt, unser Marsch … Revolutionäre sterben, doch Revolutionäre streben, unaufhaltsam … Wie konnte mir das alles in jenen wenigen Augenblicken durch den Sinn gehen? Was paßt manchmal doch alles in wenige Augenblicke hinein … Ja, es war das Gescheiteste, dort zu schweigen. Es war kein Spaß, die Bücher konnten jeden Moment beschlagnahmt werden. Und es war nicht der richtige Zeitpunkt, den Helden zu spielen. Genausowenig wie für die Aussage, daß eigentlich wir es waren, die die Heimat liebten … Am besten brachte ich das Ganze hinter mich, und wenn ich ging, dann ohne Verlust. Was besaß ich denn schon? Wenn ich die Bücher rettete, rettete ich mich auch selbst … Du kannst dir vorstellen, wie hoffnungsfroh, aufgeregt und gleichzeitig wie traurig ich war, als ich ins Flugzeug stieg. Bei der geringsten Berührung hätte ich weinen müssen. So sagt man ja, und genauso ging es mir. Ich weiß nicht, warum ich so deprimiert war, aus Erleichterung, aus Aufregung vor meinem neuen Leben, oder weil ich die Heimat verließ … Doch mir war zum Weinen zumute …«
In dem Augenblick brach plötzlich seine Stimme. Ich dachte weiter. Die von ihm geschilderte Szene machte mit all den Gefühlen, die sie erweckte, dermaßen gut verständlich, was dieses Land in einem bestimmten Zeitabschnitt durchgemacht
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