Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Zustand konnte für die Stimmung des kommenden Gesprächs in mancher Hinsicht sehr günstig sein, in anderer Hinsicht nicht. Es gab einerseits Bilder der Zerzaustheit, andererseits des Sich-nicht-unterkriegen-Lassens. Ich wählte die letzteren. Wobei ich die Möglichkeit der Täuschung und Selbsttäuschung bewußt in Kauf nahm … Wer war schon wirklich der Blöße, der Schutzlosigkeit gewachsen? … Zudem war ich überzeugt, wenn es eine Mauer, die viele Fluchten einschloß, einzureißen galt, würde sie einer von uns beiden im Verlauf des Redens, des Austausches einreißen. Dieses Gefühl hatte ich auch vor dem Treffen mit Necmi gehabt und ebenso vor der Begegnung mit Şeli … Höchstwahrscheinlich würde ich es auch vor dem Treffen mit Yorgos erleben. Die Fahrt von Bostancı nach Büyükada dauerte sowieso nicht so lange, daß sie derart viele Gefühle fassen konnte. Als sich der Dampfer der Anlegestelle näherte, wuchs meine Spannung. Ich wollte mich mit Niso bei der Buchhandlung am Ende der Landungsbrücke treffen. Ich verließ den Dampfer und ging aufs Ziel zu, wobei ich merkte, daß mein Herzklopfen immer heftiger wurde. Nach einer Weile sah ich ihn. Seine Haare waren ziemlich weiß. Auch er erblickte mich. Ein lächelnder Mensch kam auf mich zu, der seine Begeisterung, seine Freude, seine Kindlichkeit nicht verloren hatte. Wir kamen uns wortlos mit ausgebreiteten Armen entgegen, dann umarmten wir uns fest. In dem Moment empfand ich mit meinem ganzen Sein, wie sehr ich ihn vermißt hatte. Diesen Moment würde ich sicher nie vergessen. Wir gingen in das nahegelegene Café. Tatsächlich war wenig Betrieb. Der Anblick paßte zur Jahreszeit und den Erwartungen und war für mich sehr entspannend.
Zuerst fragte ich ihn, wie er sich nach all den Jahren in Istanbul fühle. Er sagte, er sei ziemlich verwirrt. Es gebe so viele Stellen, die sich verändert hatten … Für uns war es nicht so leicht, diese Veränderungen zu sehen, er aber konnte sie sehen. Noch dazu mit einem tiefen Gefühl unausweichlichen Verlusts … Vielmehr mit einem Gefühl, sich verlaufen zu haben … Freilich gab es auch Gassen, die dem Wandel widerstanden oder die es geschafft hatten, sich wenig zu verändern, und Ecken, die wie ganz früher waren. Beispielsweise waren einige Häuser auf der Insel unverändert. Der Geruch der Insel war jedenfalls mehr oder weniger gleichgeblieben. Auch das verminderte ein wenig sein Gefühl der Fremdheit. Er würde sich daran gewöhnen. Er hatte sich ja an so viele Veränderungen, Unterschiede gewöhnen müssen … So fingen wir also an zu reden. Als bemühten wir uns, einen Spalt zu schließen, den die Jahre erzeugt hatten, oder eine Lücke zu füllen, die wir nicht spüren wollten. Dieses Gefühl hatte ich auch gehabt, als ich mit Necmi und Şeli zusammengewesen war. Es gehörte zum Schicksal der Erzählung, diese Aufregung zu erleben.
Doch ich wollte mich nicht sofort auf die unvermeidliche Reise in die Vergangenheit machen. Deshalb fragte ich ihn zuerst nach seiner Mutter. Ich wußte, warum er hierher zurückgekehrt und wie traurig er über diese Krankheit war. Er erzählte von ihrem Zustand, als machte er sich ein wenig darüber lustig. Indem er Kraft schöpfte aus dem meiner Ansicht nach für ihn unverzichtbaren Komödiantentum, aus seinem unbegrenzten komödiantischen Talent … Vielleicht, um das Erlebte dadurch leichter erträglich zu machen … Die komisch wirkenden Szenen führten uns in Wirklichkeit ein sehr schmerzliches Spiel vor Augen. Die Mutter hatte sich zum Beispiel ihren Sohn vorgeknöpft und ihm erzählt, ihr Ehemann habe ihr während der gesamten Ehe, während all der sechzig Jahre, an keinem einzigen Abend Blumen mitgebracht. Obwohl er doch wisse, daß ihr in ihrer Jugendzeit viele verliebte Männer nachgelaufen seien. Und daß ihr viele Männer, wenn sie in Beyoğlu spazierengegangen sei, bewundernd nachgeschaut hätten … War das wahr, was sie sagte, woran sie sich erinnerte, und in welchem Ausmaß? … Oder brachten diese Phantasien beziehungsweise Gefühle in Form von Phantasievorstellungen jahrelang verheimlichte, versteckte Wahrheiten endlich ans Tageslicht? Wenn das stimmte, was sie äußerte oder besser was sich da, ohne daß sie es merkte, ausdrückte, wie erschütternd war das. Wie erschütternd, sogar schlimm und schmerzlich. Für alle an der Geschichte Beteiligten … Für eine Frau, die diese Gefühle erlebt hatte, ebenso wie für einen Mann, der nach so vielen Jahren diese
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