Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
übersehen. Doch wollte ich in dem Moment daran glauben, daß sie alles tat, um sich mit ganzer Kraft an die Welt zu klammern, in die sie aufs neue zurückgekehrt war …
Wir gingen gemeinsam die Istiklal Caddesi entlang. Dieses Mal waren wir ein wenig stiller. Auch die Straße war ein wenig stiller … Unsere Wege trennten sich am Taksimplatz, wie es sich für Istanbul gehörte … Ein jeder ging in sein eigenes Leben. Wir bemühten uns, die Abschiedsstimmung nicht allzusehr auszudehnen. Nach zwei Jahren würden wir uns sowieso wieder treffen. Nach zwei Jahren … Als sprächen wir alle von zwei Tagen … Für die ›Paare‹ mochte die Nacht sowieso noch nicht zu Ende sein. Niso hingegen sagte, er wolle noch ein wenig herumlaufen und eine derartige Nacht bis zu ihrem Ende wach verbringen. Es gab noch andere Orte, wohin man gehen konnte … Ganz sicher gab es ein früh geöffnetes Café, wo die Sonne aufging …
Ich blieb wieder mit Çela allein. Wir stiegen in unser Auto. Wir hatten ein Haus, in das wir zurückkehren konnten. Ein Leben, eine Gegenwart, ein Morgen … Wir sprachen beide nicht. Schauten wir zum selben Punkt hin? … Dachten wir an dieselben Menschen? … Was sie in die Stille hinein sagte, konnte vielerlei für mich bedeuten.
»Eine gute Geschichte war das, eine sehr gute Geschichte … Jeder hat erlebt, was er erleben mußte.«
Welche Geschichte meinte sie? … Ich wollte glauben, daß sie von der Zusammenkunft der ›Schauspieltruppe‹ sprach und was wir alle dabei erlebt hatten. Ich wollte nicht einmal in Erwägung ziehen, daß sie womöglich Şebnem meinte. Nein, diese Worte bedeuteten nicht: ›Ich habe verstanden, gesehen, und du hast die beste Entscheidung getroffen.‹ Vielmehr hatte ich mit diesem ›Spiel‹ den Mitgliedern der ›Truppe‹ zeigen können, daß das Leben noch immer Seiten hatte, die man nicht verpassen sollte. Zudem konnte sie am besten wissen, sehen, warum ich diesen Schritt getan hatte. Dementsprechend fiel meine Antwort aus. Diese Antwort konnte im Grunde ebenfalls vielerlei bedeuten …
»Du weißt, ich konnte nicht anders handeln …«
Ja, ich hatte nicht anders gekonnt, überhaupt nie, an keinem Haltepunkt dieser langen Reise hätte ich anders gekonnt. Selbst für Şebnem, auch für Şebnem hätte ich nicht anders handeln können. Mit diesen Worten konnte man in dieser Situation alles ausdrücken, was man wollte, auch wenn sie so aussahen, als hätte man nichts gesagt … Zumindest konnte man nicht sagen, wir hätten nicht geredet … Sie nickte schweigend. Sie hatte verstanden, was auch immer. Ich hatte gesagt, was ich hatte sagen können. Hatten wir wirklich gesehen, was man sehen mußte? … Ich schaute auf die Lichter meiner Stadt, die ich in diesen Stunden so sehr liebte. Aus dem CD -Player kam die Stimme von Leonard Cohen … Sie streichelte meine Haare. Ich war nicht allein. Ich mußte den Wert dieser Momente der Liebe zu schätzen wissen. Meine Gefühle waren verwirrt. Ich hatte in mir viele Möglichkeiten, die mich wieder irgendwohin tragen konnten, um mich sowohl eine Freude umarmen zu lassen als auch weiterhin zu trauern. Ich wußte, diese Möglichkeiten konnten mich im Laufe der Zeit zu ganz verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Situationen bringen oder mich wieder im Schweigen begraben. Das Schweigen war eine dieser Möglichkeiten. Wieweit konnte Çela sehen, was ich fühlte? … In jenen Augenblicken war ich noch ziemlich entfernt von dieser Frage, die ich mir erst jetzt stellen kann. Aber mein Gefühl reichte, daß sie sich mir plötzlich mit einer kleinen Hoffnung zuwandte, lächelnd über die Zeit, die ich erlebt hatte. In ihren Worten lag das Bemühen, die Aufforderung, sich trotz allem Vorgefallenen an ein Leben zu klammern.
»Wir beide brauchen unbedingt Erholung … In diesem Sommer fahren wir an einen ruhigen Ort und machen einen langen Urlaub … Wir beide ganz allein …«
Sie fuhr fort, sanft meine Haare zu streicheln. Wie nötig hatte ich doch diese Aufforderung. An solch einem Urlaubsort würden wir tagsüber vielleicht nur wenig sprechen. Plötzlich erschien mir der Gedanke, an einen stillen Ort zu fahren, sehr verlockend. Ich nannte den ersten Ort, der mir einfiel. Es war, als ob ihn mir jemand zuflüsterte …
»Bozcaada …«
Sie lächelte und wiederholte den Namen der Insel. Dort waren wir nie gewesen … Es war einer der Orte, an die zu fahren wir jahrelang aufgeschoben hatten. Dieses Mal würden wir fahren. Wir hatten
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