Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
nicht, auch auf Şeli und Yorgos zu trinken. Wieder redeten wir über das, worüber wir reden konnten und wollten. Das war die Szene, die sich in der Realität unseres Lebensspiels immer wiederholte und wiederholen würde … In unserer ganzen Offenheit, Ungeschütztheit und mit unseren unverzichtbaren Schutzschilden … In Wirklichkeit kannten wir die Schutzschilde gut. Aber wir kannten auch das Dahinter … Da uns die Realität bewußt war, konnten wir einander kraftvoll berühren. Deswegen waren wir füreinander bedeutsam, konnten wir nicht auf einander verzichten … Zugleich waren wir diese Stadt. Istanbul ist mein Leben war unser Schicksal, unser anrührendstes Stück … Das Stück, das wir so lange spielen würden, wie wir konnten … Unser gemeinsames Essen und Trinken war Teil dieses Spiels, und die Zeit floß dahin. Wir waren inzwischen bei der Szene angelangt, wo ein großer Teller mit Früchten in die Mitte gestellt wurde. Wir würden auch unseren Mokka und den Pfefferminzlikör trinken. Und in dem Augenblick … In dem Augenblick, als ich fühlte, daß die Zeit der Trennung ziemlich nahe gerückt war, erinnerte ich mich auch daran, was ich diesen Menschen schuldete, die mich diese Erzählung hatten erleben lassen. Ich hatte nicht einmal Necmi den eigentlichen Grund für meine Initiative erzählt. Wenn ich nicht jetzt spräche, dann würde ich das wahrscheinlich niemals tun. Der Moment, als wir unseren Mokka zusammen mit dem Likör tranken, erschien mir als der geeignetste. Die Stimmen und Bilder der Zeit des Bruchs, der mich zutiefst erschüttert hatte, zogen schnell durch mein Inneres. Kein Mensch wußte, an was ich mich wie erinnerte. Ich dachte nach, wie ich anfangen sollte, suchte nach den passendsten Worten … Doch … Doch ich konnte nicht … Ich konnte nicht, obwohl ich mich sehr bemühte und obwohl ich wußte, ich war ihnen eine Erklärung schuldig. Irgend etwas hielt mich ein weiteres Mal zurück … Vielleicht wollte ich auch den Zauber jenes Augenblicks, den Genuß, die Unbeschwertheit nicht zerstören. Ich konnte mich nur bedanken. Aus ganzem Wesen danken … Ich konnte nur diese Dankesworte sagen:
»Freunde … Ich danke euch allen, daß ihr hierhergekommen seid und mich diese Erzählung habt erleben lassen. Ich wollte eigentlich noch viel mehr sagen. Aber … Aber mehr kann ich nicht … Ihr … Ihr habt dadurch, daß ihr hierhergekommen seid … Hierhergekommen seid … Ihr habt mir das Leben gerettet …«
Ich konnte nicht weiter … Meine Stimme brach … Hätte ich weitergesprochen, dann hätte ich geweint … Çela saß neben mir. Sie hielt meine Hand … Sie verstand, was ich nicht hatte sagen können … Und die am Tisch Sitzenden verstanden, wie bewegt ich war … Dieses Mal erhoben alle ihre Likörgläser auf mich. Sie sagten, auch sie hätten mir zu danken. Daß ich sie zu diesem ›Spiel‹ gerufen hätte … In dem Moment ergriff Niso mit seiner Sensibilität und kindlichen Begeisterung die Initiative. Erst schaute er mich an, dann alle anderen am Tisch, dann stimmte er ein Lied an. Es war ein Lied aus ganz alten Zeiten … Als ob das Lied für uns geschrieben worden wäre … Ein Lied, das nach Jahren erst so richtig seinen Platz fand … » Anfangs fällt ein Funke … Langsam wächst er, breitet sich aus … « 31
In dem Moment … In dem Moment, als hätten wir es so abgesprochen, begann jeder am Tisch, in das Lied einzustimmen … Ich merkte, daß das, was geschah, ganz spontan geschah. Das Lied gehörte zu den unvergeßlichsten Liedern in der Geschichte unserer Gefühle … Wir hatten es nicht vergessen … Keiner von uns hatte es vergessen … » Plötzlich ist ein Vulkan entstanden … Du hast Feuer gefangen, Freund … Nicht Mutter noch Bruder können deine Sehnsucht stillen … Das ist das schönste, das wärmste Gefühl, Freund … Gemeinsam alles Glück, alles Leid, allen Kummer zu teilen … Und zu marschieren lebenslang, gemeinsam Hand in Hand … «
Wir hatten uns in dem Gefühl, das das Lied erweckte, bei den Händen gefaßt und waren alle sehr bewegt. Trotzdem lächelten wir, natürlich lächelten wir trotzdem. Doch zugleich wurden auch unsere Augen feucht. In dem Moment sah ich auch in Şebnems Gesicht Tränen. Worüber weinte sie? Über die Freude, die sie nach Jahren unerwartet gefunden hatte, die aus der Tiefe kam und in die Tiefe ging, oder über jenes Leid, von dem sie wußte, sie hatte es nicht aus sich verbannt und würde es nie loswerden?… Das
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