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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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Demonstration auf dem Platz zu kommen, denn man dürfe nicht länger schweigen, das Land Israel brauche unsere Unterstützung, es würde es nicht mehr allein schaffen. Als hätten wir kein Land, keine Fahne und keine Hymne, als hätten heute nicht zwei Menschen ihr Leben für das Land gegeben. Was meinte er mit »nicht länger schweigen«? Sollten vier ihr Leben geben? Fünf? Zehn?
    Nach Jonathan rief niemand mehr an.
    Wir gingen nicht zur Demonstration. Ich hatte Angst, dass fremde, mit Ideologie angefüllte Sohlen auf Nadavs roten Zeh treten könnten. Im Fernsehen wurden Leute gezeigt, die bei der Beerdigung der Soldaten schweigend die Köpfe senkten, und andere, die auf dem Platz die Köpfe reckten und den Himmel mit Geschrei füllten. Nadav fragte, warum die einen weinten und die anderen schrien.
    »Wegen Israel, die einen wie die anderen«, sagte ich.
    »Mama, woran denkst du?«
    »An die neuen Schuhe, die wir dir kaufen.«
    »Wie viele Schuhe kriege ich?«
    »Ein Paar.«
    »Warum denkst du dann so lange nach?«
    Er wühlte in meiner Tasche und zog das Bild mit dem abgerissenen Himmel heraus.
    »Schau, mein Bild ist kaputt.« Er fragte nicht, wer das getan hatte und warum, als gehörte es zum Leben, dass Dinge abgerissen wurden. Er nahm ein neues Blatt und malte mit kräftigen Farben einen Himmel, und er wusste nicht, dass auf unserem Anrufbeantworter die Nachricht war, der Himmel sei gefunden worden und könne in der Feigenstraße 9 abgeholt werden.Ein Tag verging, ich flocht mir die Haare, trug ein violettes Kleid, Nadav zog seine neuen Schuhe an, dann gingen wir zur Feigenstraße 9, um uns den Himmel abzuholen. Ich klopfte an die Tür der Wohnung 6 und wartete auf die Wirrungen des Schicksals, die in der Tür erscheinen würden. Nadav, der gekommen war, um seinen Himmel abzuholen, betrachtete seine neuen Schuhe und stellte die Füße nebeneinander.
    »Die Tür ist offen«, kam eine Stimme aus der Wohnung, und der Junge war gespannt.
    Ich atmete tief die Luft des Treppenhauses ein, drückte auf die Klinke, nahm Nadav an der Hand und trat ein.
    Scha’ul Harnoi war Scha’ul Harnoi, plus allem, was ein Mensch in zehn Jahren ansammelt und verliert.
    »Ich rieche Guaven, Mama«, sagte Nadav.
    »Ich bin verblüfft«, sagte der Gastgeber.
    »Kann ich ein Glas Wasser haben?«, sagte die Besucherin.
    Er ging in die Küche und kam mit einem Tablett zurück, auf dem Gläser mit Wasser und drei gelbe Guaven lagen.
    »Kümmelbrot, du bist noch genauso schön wie früher.« Seine Augen musterten mich. »Setzt euch.« Er deutete auf ein altes braunes Sofa, beugte sich vor und nahm die Zeitungen weg, in denen er bis vor kurzem wohl gelesen hatte.
    »Ich möchte meinen Himmel«, flüsterte Nadav, nahm eine Guave und biss trotz zweier fehlender Milchzähne in das Fruchtfleisch. Zwischen Scha’ul Harnoi und mir stand ein Abgrund aus Zeit und Glück. Ich hatte gehofft, er sei Schreiner geworden, der schöne Gebrauchsgegenstände herstellte, Schränke, Stühle, Betten. Seine Arme waren stark und fest, geeignet, um an einer Werkbank zu schreinern, zu hobeln und zu sägen. Aber er war Doktorder Politikwissenschaften geworden und hatte auf Gott und das ganze Land Israel verzichtet, die Kipa vom Kopf genommen und Samaria und die Frau verlassen.
    »Und was machst du?«
    »Ich verkaufe im Lebensmittelladen.«
    Nadav machte seinen Zeigefinger mit Spucke nass und wischte einen Tropfen Saft weg, der auf seinen neuen Schuh gefallen war.
    »Und ich bin im Kindergarten«, sagte er. »Und ich möchte meinen Himmel.«
    Scha’ul Harnoi betrachtete den Jungen, als wäre er eine nicht realisierte Chance, und zog aus seiner Hemdtasche den vom Bild gerissenen Papierstreifen und hielt ihn ihm hin.
    »Du hattest eine vollendete Silhouette, ich habe gedacht, du würdest Tänzerin, und stattdessen bist du Verkäuferin geworden«, sagte er.
    »Du bist nicht geworden, was ich dachte, und ich nicht, was du dachtest«, sagte ich.
    Er betrachtete die getrockneten Regentropfen, die sein Fenster fleckig gemacht hatten, und sagte: »Vor ein paar Jahren, in der Woche nach dem Attentat auf den Ministerpräsidenten, griff ich Gott an und nahm die Kipa vom Kopf. Das hatte nichts mit dem Mord zu tun, es war ein zufälliges Zusammentreffen der Ereignisse. Eine Scheißwoche für den Staatspräsidenten und für den Direktor des Kosmos.« Er lächelte, ich lächelte nicht.
    Sein unbedeckter Kopf war schwerer und niedergeschlagener als früher. Früher hatte er

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