Wodka und Brot (German Edition)
Fahrgäste wurden verletzt, die Familien wurden benachrichtigt.
Ich machte das Radio aus und verließ das Auto. Ein kleines Mädchen saß auf dem Gehweg vor dem Haus 9 und aß ein Stück Kuchen. Die Kleine sah ihm nicht ähnlich. Das hatte nichts zu bedeuten. Ich sah meinem Vater auch nicht ähnlich. Die Kleine leckte sich den Sirup von den Fingern und beachtete mich nicht, als ich die Stufen hinaufstieg und mein Kleid über ihre Wange strich. Sechzehn Briefkästen, volle und leere, verschlossene und aufgebrochene, auf dem Briefkasten Nummer sechs stand der Name: Harnoi. Nicht Familie Harnoi, nicht Scha’ul und Dina oder Schosch oder sonst ein Name von all den Sarahs oder Dalias oder Rinas. Ich hatte keinen leeren Zettel in der Tasche, nur ein Bild, das Nadav gemalt hatte, ich riss den Himmel ab, schrieb meine Telefonnummer darauf und warf das Papier in den Briefkasten. Ein früher Mond stand über dem Haus, und hinter der Stadt verblassten die gelben Berge. Sieben Zahlen hatte ich in den Briefkasten geworfen. Fünf Zahlen hatte meine Mutter auf dem Arm gehabt. Na und? Was hatte das damit zu tun? Es gibt Zahlen und Nummern, es gibt Leute, die zählen, wie viele hinübergehen und wie vielegeboren werden. Angenommen, es waren vier Soldaten, die verletzt worden waren, oder auch nur zwei. Noch eine Welt, die zerstört wurde, oder zwei weniger. Na und? Jeden Tag baut der Heilige, gelobt sei er, Welten und zerstört sie. Ich saß in meinem Mazda, dachte an die Zahlen und an die Menschen und beobachtete das Haus. Manche Rollläden waren heruntergelassen, andere nicht, und man konnte nicht wissen, aus welchem er abends den Kopf strecken würde, um sich abzukühlen.
Ich blieb sitzen, bis es dunkel wurde, und kein Kopf wurde in die Nacht geschoben, und kein Scha’ul Harnoi betrat das Treppenhaus oder kam heraus. Ich fuhr davon, holte Nadav ab, und wir fuhren zum Dorf. Der Alte hörte uns und kam zu seinem Fenster, schob seinen Kopf heraus und sagte: »Die Magersüchtige aus Ihrer Familie war hier. Sie ist ums Haus herumgelaufen.«
Ich wurde ungeduldig. »Sonst noch was?«
»Nichts … sie hat einen alten Narren im Fenster gesehen, hat ihm eine Kusshand zugeworfen und ist abgehauen. Was für eine Kleidung, was für ein Gang, widerlich. Ihr Cousin hat sich bei ihrer Erziehung nicht besonders angestrengt.«
»Vermutlich nicht.« Ich zog Nadav hinter mir ins Haus.
»Mama, was hat er gesagt?«
»Nichts, nur Gerede.«
Was war mit ihr, der Magersüchtigen, die zurückgekommen war? War es ein Vorgeschmack auf das, was sie noch mit uns vorhatte? Hatte sie ein Taschenmesser verloren? Ein Feuerzeug? Eine Haarnadel? Nadav aß sein Rührei und sagte »kleine russische Hure«, betont, als wäre es ein Segensspruch.
In den Neun-Uhr-Nachrichten wurde mitgeteilt, dasszwei Soldaten bei dem Anschlag getötet und einer verwundet worden seien. Aus dreien war einer geworden. Nach den Nachrichten riefen wir Gideon an. Nadav erzählte seinem Vater von Madonna und von seinen Turnschuhen Größe siebenundzwanzig, die ihm zu klein seien, sein großer Zeh sei schon rot. Auch ich erzählte ihm von Madonnas Besuch, und nachdem ich ihm beschrieben hatte, wie ich die Nacht verbracht hatte, ging ich auf den Tag über. »Da war ein Reservesoldat, der Adressen von anderen Reservisten kontrollierte, stell dir vor, er hat einen Mann gesucht, der mal in mich verliebt war.«
»Und?«
»Was und, das ist doch erstaunlich, oder? Ausgerechnet mich hat er nach jemandem gefragt, der …«
»Ich verstehe nichts, Amia …«
»Jemand, der vor zehn Jahren …«
»Was? Ich verstehe nichts …«
Gideon wusste von Scha’ul Harnoi, so wie er wusste, dass man mir in der sechsten Klasse die Mandeln rausgenommen und dass ich mit siebzehn den Führerschein gemacht hatte. Die Details aus meiner Vergangenheit wurden in seinem Papierkorb aufbewahrt, für den Fall, dass sie einmal gebraucht würden, wenn ich zum Beispiel einen Verkehrsunfall hätte und die Ärzte der Intensivstation ihn nach einer früheren Operation fragen würden. Er würde sagen, ja, man hat ihr in der sechsten Klasse die Mandeln rausgenommen. Und was ist mit Narkosen? Ja, sie hatte zwei spontane Fehlgeburten. Hatte sie einmal Schwierigkeiten mit dem Herz? Ja, sie hat einmal einen gewissen Scha’ul Harnoi geliebt.
Aber solange alles normal war, gehörte Vergangenes zur Vergangenheit.
Nach dem Gespräch mit Gideon rief mein Bruder Jonathanan und forderte mich auf, am nächsten Tag zu einer
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