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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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du nicht sprechen gelernt?« Der Hals des Alten reckte sich in die Länge. Die Ameisen machten sich daran, Nadav aus seiner Lähmung zu holen, sie krochen über die neuen Schuhe und krabbelten an seinen nackten Beinen nach oben. Er schlug nach ihnen und schüttelte seine Beine, rieb seine Oberschenkel aneinander und klopfte sich die winzigen Angreifer von der Hose, aber der Hausbesitzer ließ nicht locker.
    »Wirf mir einen Schuh herauf, ich will die Nummer sehen.« Wieder beugte er sich vor. Meine Geduld sankwie eine schlechte Aktie an der Börse, nicht nur wegen des Alten, der sich um Nadavs Schuhe kümmerte und ihm Angst machte, sondern auch wegen Nadav, der ihm auswich und den Kopf zwischen den Knien vergrub, statt dass er aufstand, frech wurde und schrie, ich will nicht, lass mich in Ruhe, Mama, sag es ihm. Ich nahm die Ameisen als Zeugen dafür, dass ich ihn nicht zu weich und zerbrechlich aufwachsen lassen wollte. Das Leben verachtet zerbrechliche Menschen, drückt sie zur Seite, kümmert sich nicht um diejenigen, die den Blick senken und nachgeben.
    »Gib mir einen Schuh.« Ich stand über meinem Jungen und griff mit erdverkrusteten Händen nach ihm, zog ihm einen Schuh aus und warf ihn zum Fenster des Alten hinauf. Vögel erschraken vor dem seltsamen Vogel, flatterten auf und flogen in die Dämmerung, schrien und sahen aus, als wären sie dem Schädel des Alten entflogen. Der Schuh flog an seinem Ohr vorbei, landete mit einem Krachen im Haus, und der Alte folgte dem Schuh. Der Junge kämpfte mit den Tränen, er betrachtete den schuhlosen Fuß, zog den Strumpf nicht hoch, der heruntergerutscht war und an den Zehen hing.
    »Warum hast du mir den Schuh weggenommen? Er wird ihn mir nicht zurückgeben«, jammerte er. »Ich will, dass Papa kommt.«
    Weil er so unglücklich aussah, umarmte ich ihn nicht. Ein fünfjähriger Junge muss ein kontrolliertes Maß an Leid aushalten. Wenn er es nicht von Zeit zu Zeit übt, die Zähne zu fletschen und zuzubeißen, würden die Raubtiere ihm bald irgendwo auflauern und ihn verspotten. Eine kontrollierte Dosis, Worte aus der Apotheke, ein Kilo Zorn, siebenhundert Gramm Kränkung? Wie viel Wärme und Zuneigung würde ihn auf das richtige Leben vorbereiten? Und wie verteiltman das Herz zwischen ihnen? Meine Hand ignorierte die Zukunft und berührte ihn, die Zyklamenerde mischte sich mit seinen Tränen, und der Schmutz verschmierte seine Wangen. Sein Weinen wurde lauter, als habe er jetzt die Erlaubnis bekommen. Ich biss mir auf die Lippe, er hatte keine Geschwister, er hatte in diesem abgelegenen Nest keine Freunde, seine Großeltern mütterlicherseits waren tot, die Großeltern väterlicherseits kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, sein Vater war zu den Fischen gegangen, ich experimentierte mit der Belebung eines Lebensmittelgeschäfts, und wir alle zerstörten ihm unabsichtlich das Leben. War es ein Wunder, dass er sich über die neue Kusine freute, die bei uns aufgetaucht war? Ich wusste nicht, was besser war, ihn zu schütteln und anzuschreien, hör schon auf zu weinen, oder ihn in den Arm zu nehmen. Schließlich verschob ich sein Training für das Leben, das er noch nicht gelebt hatte, auf später und umarmte ihn.
    »Achtundzwanzig, innen und außen«, verkündete der Alte von seinem Beobachtungsposten aus und hielt den Schuh in seiner runzligen Hand, als hätte er eine Taube gefangen.
    Der Junge hörte auf zu weinen.
    »Von außen sind es achtundzwanzig, innen haben sie ein bisschen geschwindelt, da fehlt ein Viertelmillimeter.«
    Er verkündete das Ergebnis der Untersuchung, die er angestellt hatte, und warf uns den Schuh so vorsichtig zu, dass er uns vor die Füße fiel. Nadav berührte den Schuh nicht, der neben seiner offenen Hand lag, mit der Oberseite nach unten, mit der Sohle zum Himmel.
    »Der Schuh«, sagte ich. »Los, zieh den Strumpf hoch und schlüpfe hinein.«
    Es ärgerte mich, dass er gehorchte und tat, was ich ihm befohlen hatte. Der Alte folgte jeder seiner Bewegungen.
    »Morgen ziehe ich die anderen Schuhe an«, verkündete Nadav, als wir das Haus betraten. Er hatte Angst, dass der Alte ihm die neuen Schuhe wegnehmen könnte, er packte sie ein, schob die Schachtel weit unter das Bett und fragte, ob der Alte einen Schlüssel für unser Haus habe und ob er sich noch bücken könne. Er prüfte das Versteck und stopfte seine Zudecke in den Raum zwischen dem Bett und dem Fußboden. Man muss sich dieses Jungen einfach annehmen, a mentsch aus ihm

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