Woerter durchfluten die Zeit
Café lag nicht weit vom Bahnhof entfernt und wirkte nach der Erfahrung mit dem Bahnhofsgebäude erstaunlich einladend. Lucy trat ein und sofort umfing sie eine wohlige Wärme.
Die junge Kellnerin musterte ihre nasse Gestalt abfällig. Lucy tat, als hätte sie den Blick nicht bemerkt und sah sich um. Madame Moulin saß in einer Ecke des gut besuchten Lokals und winkte ihr zu.
Lucy zog ihre Jacke aus und drängelte sich zwischen den Stühlen des kleinen Cafés zu ihr durch. Die alten Damen, die in ihre Gespräche vertieft waren, schienen sie nicht zu bemerken.
Madame Moulin stand auf und umarmte sie. Dann schob sie Lucy von sich und sah sie an. Sie strich ihr sanft die nassen Haare aus dem Gesicht, wie sie es schon getan hatte, als Lucy noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Du siehst dünn aus«, stellte sie fest. »Dir fehlt Marthas gutes Essen.«
»Ich hätte besser aufpassen sollen, als sie versucht hat, mir das Kochen beizubringen«, pflichtete Lucy ihr bei.
»Colin sollte sich besser um dich kümmern«, warf Madame Moulin ein. »Ich werde ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen.« Sie lächelte. »Setz dich erst mal. Wir bestellen dir etwas. Der Kuchen hier ist erstklassig. Dann reden wir.«
Lucy war zu ungeduldig, um zu warten. »Sie müssen mir genau erzählen, was passiert ist. Was hat es mit dem Brief auf sich und wieso wurde er gestohlen? Wer sollte ein Interesse daran haben?«
Madame Moulin legte ihre Fingerspitzen aneinander und begann, Lucy noch einmal mit leiser Stimme zu berichten, was in den letzten Tagen geschehen war. Lucys Erstaunen wurde von Minute zu Minute größer.
»Das Medaillon konnte ich retten«, beendete Madame Moulin ihre Ausführungen, zog die Kette unter ihrem Pullover hervor und reichte sie ihr.
Fassungslos starrte Lucy auf das kleine Buch in ihren Händen. »Ich habe es gereinigt. Vorher war es beinahe schwarz.«
»Es ist wunderschön«, sagte Lucy und strich über den funkelnden Schatz. Auf dem Deckel war ein seltsam geformtes Kreuz zu erkennen.
»Was ist das für ein Kreuz«, fragte sie. »Haben Sie so eins schon mal gesehen?«, fragte Lucy.
Madame Moulin schüttelte den Kopf. »Es ist kein christliches Kreuz, glaube ich. Alle Seiten sind gleich lang.«
Das stimmt, dachte Lucy erstaunt.
»Mach es auf«, ermunterte Madame Moulin sie dann. »Im Inneren verbirgt sich die eigentliche Überraschung.«
Lucy öffnete das Buch an dem winzigen Verschluss und betrachtete stumm das Bild.
»Denken Sie das, was ich denke?«, fragte sie nach einer Weile.
Madame Moulin nickte. »Ich bin sicher, dass dies deine Mutter ist und ich denke auch, dass der Mann dein Vater ist.«
»Sie sehen glücklich aus«, meinte Lucy.
»Ja, das tun sie.«
»Ob es mich schon gab, als dieses Bild entstand?« Lucy spürte, wie die Tränen ungewollt in ihr aufstiegen.
»Du kannst das Bild herausnehmen. Ich musste es gestern tun, als ich das Medaillon reinigte.«
Vorsichtig zupfte Lucy es heraus.
»Dreh es um«, forderte Madame Moulin.
Winzige Buchstaben wurden auf der Rückseite sichtbar. Sie waren nur schwer zu entziffern. Lucy hielt das Bild näher an ihre Augen.
»Ich hätte die Lupe mitbringen sollen«, sagte Madame Moulin amüsiert.
Leise las Lucy vor: »Für Lucy – unser einziges Kind, dem immer unsere ganze Liebe gehören wird.«
Tränen tropften in Lucys Schoß. Madame Moulin reichte ihr ein Taschentuch und rettete das Bild und das Medaillon. Sie schob das Foto an seinen Platz zurück und verschloss das Schmuckstück sorgfältig. Dann griff sie nach Lucys Hand.
»Das beantwortet deine wichtigste Frage, Lucy. Und wenn du meine Meinung hören willst, so etwas schreiben keine Eltern, die vorhaben, ihr Kind auszusetzen.«
»Aber sie haben es getan«, warf Lucy leise schluchzend ein.
»Sie werden einen Grund dafür gehabt haben. Einen Grund, der sie zwang, dich in die Obhut des Vikars zu geben.«
»Weshalb haben sie mich nie zurückgeholt? Welcher Grund sollte so lange Bestand haben?«
Darüber hatte Madame Moulin sich auch schon Gedanken gemacht, und nachdem Ralph offenbar ermordet worden war, gab es auch hierfür eine Erklärung. Sie seufzte, bevor sie sprach.
»Meiner Meinung nach kann dies nur eins bedeuten, Lucy.« Sie stockte und sah in Lucys erwartungsvolles Gesicht. »Ich befürchte, dass sie nicht mehr unter uns weilen.« Sie brachte es nicht übers Herz, das Wort »tot« zu verwenden. Auch so war diese Antwort für Lucy schlimm genug. Ihre Unterlippe zitterte und in
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